Mia`s Blog-Adventskalender Türchen 22
Guten Morgen an alle Leser und Leserinnen unserer Adventsgeschichte,
wie immer sind nur die aktuellen Zeilen in gerader Schrift verfasst, alles andere habe ich kursiv gesetzt.
Weihnachten und der Jahreswechsel stehen nun unmittelbar bevor, daher danke ich allen, die mich auf meinem Blog begleitet haben, wünsche euch ein gesegnetes und besinnliches Weihnachtsfest und für 2018 nur das Beste…
Erinnern möchte ich noch an die Rauhnächte, jene zwölf heiligen Nächte zwischen den Jahren, also zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es gibt zahlreiche Rituale für diese Nächte, auch das Schreiben soll in dieser Zeit intensiver sein. Probiert es aus….
… und morgen früh öffnet die Küchenmarie das nächste Türchen …
Sie lag auf dem Rücken im warmen Wasser des Außenbeckens im Solebad. Sie spürte das Wasser, das sie trug und blickte entspannt in den Nachthimmel. Der Mond erzählte ihr die Geschichte des Tages. Seine Sicht war eine völlig andere als ihre. Seine Geschichte gefiel ihr besser und als er geendet hatte, sah sie, wie etwas vom Mond herunter direkt neben ihr ins Wasser plumpste.
Es glitzerte wunderschön und ohne nachzudenken, streckte sie die Hand aus, um es zu erhaschen. Aber sie war zu langsam, hatte wohl doch einen Moment gezögert. Das Ding rutschte zwischen ihren Fingern hindurch und sank auf den Boden des gekachelten Schwimmbades. Da lag es nun. Ein schwaches Leuchten drang zu ihr herauf. Wie sollte sie an das Ding herankommen. Wenn sie eines hasste, dann war es das Untertauchen. Schon allein die Vorstellung, mit dem Gesicht unter Wasser zu müssen, jagte ihr trotz der Wärme des Solewassers eine Gänsehaut über den Rücken.
An Entspannung war nun nicht mehr zu denken. Wie sollte sie an das matt leuchtende Etwas herankommen, dass zu packen sie um Haaresbreite verfehlt hatte? Sie schaute sich suchend um, als gäbe es irgendwo im Außen eine Lösung zu entdecken. Bei aller Anspannung zwang sie sich zur Ruhe und schloss noch einmal die Augen; da fiel ihr ein, wie es gehen könnte.
Sie dachte an Erik, den Bademeister, der ihr vor zehn Jahren in genau diesem Schwimmbad zum ersten Mal begegnet war – einem verträumten jungen Mann mit kurzen, glatt gekämmten dunklen Haaren, stets mit einem Buch vor der Nase, der sie erstaunt und an Paul Celan erinnert hatte. Er saß am Beckenrand auf einem dieser weißen Plastikstühle, die auch ein Solebad seinen Aufpassern zur Verfügung stellte und las in einem zerfledderten Taschenbuch, offensichtlich absorbiert von der Geschichte aus einer anderen Welt. Zunächst traute sie sich nicht, ihn anzusprechen, denn es schien ihr, als säße er inmitten einer Glocke aus flirrenden und tanzenden Satzfragmenten, die sie nicht zu durchbrechen wagte. Doch sie hatte den Lieblingsring ihrer Großtante beim Schwimmen verloren, das kostbarste Etwas, das sie besaß und traute sich nicht, danach zu tauchen. „Entschuldigen Sie, bitte, aber ich habe etwas sehr Wertvolles im Becken verloren, könnten Sie mir vielleicht bei der Suche behilflich sein?
Erik schüttelte sich kurz, blickte sie mit verklärten Augen an, zögerte danach keine Sekunde und sprang.
Natürlich war kein Erik in der Nähe. Bestimmt war er längst seinen Träumen hinterhergereist. Als sie sich hilfesuchend umschaute, vermieden die anderen Gäste jeglichen Blickkontakt. Und die aufsichtführende Bademeisterin war gerade mit einigen Kindern beschäftigt, die albernd und viel zu schnell über die glatten Kacheln geflitzt waren. Ihre Super-Idee verflüchtigte sich im Nebel des salzigen Wasserdampfes. Sie sah mit nachdenklichem Blick über die erneut von Sprudeldüsen in Bewegung gebrachte Wasserfläche, da kam ihr just das Ende eines Gedichtes in den Sinn. Verfasst von dem Lyriker Celan, an den sie damals Erik erinnert hatte. … ein Wort zu dem du herabbrennst‘. Aus ‚Feuer und Wasser‘. Das konnte kein Zufall sein.
Oder doch? Es war jetzt keine Zeit, um lange nachzudenken, schon gar nicht über dieses Gedicht, das sie seit jenem Morgen begleitet, als es eine Mitschülerin vor dem Unterricht an die Tafel schrieb. Obwohl, dieses Gedicht…, konnte es ihr gerade jetzt nützlich sein? Sie blickte auf das leuchtende Ding unter Wasser und dann lächelnd hoch zu ihrem heimlichen Verbündeten, dem Mond. Plötzlich wusste sie, was zu tun war.
Natürlich war es riskant, ihren Posten zu verlassen. Aber sie musste etwas riskieren, wenn sie erfahren wollte, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte zu erfahren, was da auf dem Schwimmbadboden glitzerte. Betont lässig schwamm sie zum Glastunnel, der das Außen- mit dem Innenbecken verband, lächelte dem alten Herrn zu, der ihr entgegenkam. Mit fünf Stößen durchquerte sie den Tunnel und kletterte gleich am ersten Ausstieg aus dem Wasser. Sie lief zu ihrer Liege, streifte sich noch tropfnass ihren roten Bademantel über und kramte in ihrer Tasche.
Ihre Hand umfasste die Taucherbrille, die sie seit Jahren in ihrer Bademanteltasche trug, obwohl sie niemals tauchte. Sie schob die getönten Kunststofflinsen über ihre Augen und das Gummiband kniff in ihren Hinterkopf. Nun sah ihr die Welt in weichen Grüntönen entgegen, eine Welt, in der sie ihren Bademantel wieder abstreifen und zurück ins Außenbecken schwimmen konnte und ihr Gesicht wieder dem lockenden Leuchten vom Beckengrund zuneigte. Doch niemals würde sie es über sich bringen, ihren Kopf unter Wasser zu tauchen. Da sauste ein grün glühender Pfeil aus den Weiten des Sternenzelts herab und landete zischend im Wasser neben ihr und nun kam planschend das Köpfchen seines kleinen Passagiers an die Oberfläche. „สวัสดีตอนค่ำ“, sagte das Universalpferdchen mit heller Stimme, „ich heiße Wunschwort – und wer bist du?“ „Gertrud“, antwortete die Badende und sah erst jetzt den Fisch auf des Pferdchens Rücken. „Hallo Gertrud, ich bin Taro, gekommen, Dir einen Wunsch zu erfüllen.“ Taro reichte ihr ein Blatt, auf das sie ihren Wunsch notieren solle, den er in einem fernen Land jenseits der Meere an den Wunschbaum hängen werde. „Aber mach bitte schnell, es ist ja fürchterlich kalt bei Euch! Wie hältst Du das nur aus im Badeanzug?“
„Musst du mich so hetzen?“, maulte Gertrud und bereute es gleich wieder, denn Taro war nett und sie sah, wie sehr er zitterte. „Tschuldigung?“, murmelte sie, überlegte kurz und länger und zwei weitere Schwimmrunden der älteren Dame mit grellpinkfarbener Badehaube weiter begann sie zu schreiben.
„ERIK!“ Echt, jetzt?“, fragte Taro. „Ich bin aus dem fernen Land der Sonne und der Wünsche hierhergereist und du schreibst „Erik“ auf den Zettel. Also, echt jetzt!“
„O.k., ich überlege nochmal. Willst du vielleicht solange in das warme Entspannungsbad gehen, dann musst du nicht so frieren!“, bot Getrud an und hoffte so ihre Unhöflichkeit von eben wiedergutzumachen. Sie hatte die letzten Worte kaum ausgesprochen, da war Taro auch schon verschwunden und ein spitzer Schrei aus dem Entspannungsbad zeigte ihr, dass er angekommen war. Gertrud schaute in den Nachthimmel, aber da war kein Wunsch mehr abzulesen. Sie seufzte, rückte ihre Taucherbrille zurecht und schrieb. „Na, endlich!“, sagte Taro, wieder neben ihr. „Ist das dein Ernst?“, fragte er mit Blick auf das Wort. „Ja!“, sagte Gertrud genervt und fragte sich kurz, ob Taro wirklich die Idealbesetzung für diese heikle Aufgabe war. „Na, dann schauen wir mal, ob der Wunschbaum das besser versteht als ich!“, sagte Taro.
Mit einem Kopfschütteln packte Taro das Blatt mit Gertruds Wunsch unter seine linke Seitenflosse und verabschiedete sich mit einem genervten „na dann“ von Gertrud. Dann verschwand er und das Universalpferdchen in den Nachthimmel so plötzlich wie er vorher aufgetaucht war. Nur das langsam verschwindende Glühen des grünen Pfeiles zeigte Gertrud, dass sie doch nicht geträumt hatte und die Begegnung real gewesen war. Einen Augenblick war sie so im Gedanken an diese eigenartige und skurrile Begegnung vertieft, dass sie den Grund für die Taucherbrille auf ihrer Nase fast vergessen hätte. Auf einmal fiel ihr siedend heiß ein, dass sie das Wort falsch geschrieben hatte und somit ihr Wunsch wahrscheinlich gar nicht Erfüllung ging. Traurig und enttäuscht, nahm sie die Taucherbrille ab.
Etwas benebelt von den Ereignissen legte sie sich auf die Plastikliege am Beckenrand, schmiegte sich in ihren roten Bademantel, zog den Gürtel etwas enger zu als sonst und schloss ihre Augen. Angestrengt versuchte sie darüber nachzudenken, was sie geschrieben hatte – dabei bebten ihre Nasenflügel ganz leicht und kaum sichtbar. Niemand anderem außer Erik war dieses Phänomen je aufgefallen, aber sobald das Beben in diesem Teil des Gesichtes erschien, konnte man sicher sein, dass Gertrud vollkommen eingetaucht war in ihre Gedankenwelt.
„Warum will es mir einfach nicht gelingen, meine Wunschworte aufzuschreiben? Warum macht meine Hand, was sie will sobald ich ihr einen Stift gebe?“
Das undefinierbare Ding am Boden des Solebades leuchtete immer noch matt vor sich hin, Gertrud hatte inzwischen ihre Augen wieder geöffnet und auf einmal überkam sie beim Anblick dieses schimmernden Lichtes eine wundersame, nie geahnte Ruhe.
Einen Moment genoss sie den Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen, dann fielen ihr die Augen zu. Bei aller Aufregung um das Etwas auf dem Grund hatte das warme Salzwasser eine sehr entspannende Wirkung. Gertrud schlief ein. Zunächst kämpfte sie noch dagegen an und versuchte, wach zu bleiben, schließlich wollte sie doch endlich eine Lösung für die Bergung finden… doch dann gab sie sich dem Schlaf hin, der sie schnell sanft umhüllte. Tänzelnd, schwerelos lief sie auf dem Meeresboden umher. Sie sammelte Buchstaben ein, die dort im Sand lagen, teilweise halb eingegraben. Ein I, ein K, ein R und ein E. Erik! Genau! Es stimmte doch alles. Auch auf dem Wunschzettel stand genau dieser Name, dieses Wort. Plötzlich war sie sich wieder ganz sicher. Diesmal hatte sie doch alles richtig gemacht. Der Erfüllung ihres Wunsches stand also nichts im Weg. Eine große Freude erfasste sie und ihr Herz hüpfte. Sie nahm die Buchstaben, stieß sich vom Meeresgrund ab und ließ sich mit leichten Vor- und Zurückbewegungen der Beine zur Wasseroberfläche hinauf gleiten. Kaum hatte sie ihren Kopf aus dem Wasser gehoben, wachte sie auf. Sie lag immer noch in ihrem roten Bademantel auf der Plastikliege. War also alles ein Traum? Die Buchstaben? Nur ein Traum? Sie rieb sich die Augen. Aber das Gefühl, diese unbändige Freude und Zuversicht, die war ganz deutlich spürbar.
Sie bemerkte, dass es langsam hell wurde, die Dämmerung schlich sich am Horizont heran und hüllte das Schwimmbad in ein blaugraues Licht. So lange hatte sie geschlafen? Das glitzerner Ding am Boden des Beckens strahlte Gertrud entgegen. Sie besann sich: Gestern fiel dieses Ding direkt vom Mond ins Becken und dann nahm ihr Taro auf dem Universalpferdchen ein Wunschwort ab und verschwand damit als grüner Pfeil am Nachthimmel. Welchen Zusammenhang gab es wohl zwischen dem leuchtenden Etwas auf dem Beckengrund und dem Wunschwort? Und dann noch der Traum mit den Buchstaben auf dem Meeresgrund… Da! Jetzt wurde es ihr klar! Heute war Donnerstag und die Frühbadezeit begann um 6 Uhr morgens.
Jetzt oder nie! Sie setzte sich schwungvoll auf, streifte ihren Bademantel ab und ging die wenigen Meter bis zur heißen Dusche. Das Unterwasserleuchten ließ sie links liegen. Sie brauchte es nicht mehr, nicht physisch zumindest. Es hatte einen Samen gesät. Dann der Traum. Das Sinnbild. Erik. Wenn sie es genau besah, schlummerte es seit Jahren in ihr, sie hatte nur nie wahrhaben wollen, wofür es stand. Wofür sie brannte.
In nichts als heißen Wasserdampf gehüllt, ging sie durch das Drehkreuz, kleidete sich an. Der Bademantel! Vielleicht war es Zeit, sich zu trennen, zu lösen. Von mehr als dem roten Begleiter. Fünf Uhr achtundvierzig. Gertrud wollte das Bad verlassen, bevor die ersten Gäste kamen. Keine Stimmen drangen ihr entgegen, als sie den Eingangsbereich erreichte. Seltsam. Ein erneuter Blick zur Uhr. Kopfschütteln. Sie ging auf die automatische Schiebetür zu. Festgefroren in keiner Bewegung. Verdammt. Jetzt wollte sie endlich Taten folgen lassen! Was stand denn da? Sie entzifferte mühsam…
Wieso war heute geschlossen??? Es war doch Donnerstag – Frühbadezeit. Als sich Gertrud suchend umblickte, bemerkte sie ein grünliches Schimmern hinter dem kleinen Regal mit den Flyern für die Schwimmkurse, das auf dem kleinen Tisch nahe am Ausgang stand. Als Gertrud näher trat, bewegte sich der Schimmer und verwandelte sich in das Universalpferdchen. “Na endlich, du Schlafmütze, das wurde aber so langsam Zeit“. Gertrud beschloss, sich nicht weiter zu wundern. „Wunschwort, was machst Du denn hier und ist Taro auch da?“ „Nee, dem ist es hier zu kalt, der ist lieber beim Wunschbaum geblieben. Wir hätten da noch mal eine Frage, oder vielleicht sogar einen Vorschlag und haben deshalb mal kurz die Welt angehalten, bis wir das mit Dir geklärt haben.“
„Hör mal, Wunschwort“, sagte Gertrud leicht ungehalten. „Ich verstehe einfach nicht, was ihr an meinem Wunsch nicht versteht. Ich wünsche mir Erik, sonst nichts.“
Das kleine Universalpferdchen tänzelte nervös mit deinen Vorderhufen hin und her. „Das verstehen wir schon, aber…“
„Aber?!“ rief Gertrud aufgebracht, doch dann ließ sie sich resignierend auf die nächstbeste Bank sinken. Eine große Traurigkeit überkam sie. Sie schüttelte langsam den Kopf. „Ich bin so dumm“, sagte sie. „Ich habe mir doch wirklich Hoffnung gemacht.“ Sie lachte verbittert auf. „Natürlich könnt ihr mir diesen Wunsch nicht erfüllen, ihr könnt mir Erik nicht geben.“
Wunschwort trappte auf sie zu, stupste mit seiner Schnauze an ihr Schienbein und blies warme Luft durch seine Nüstern. Gertrud spürte durch den Stoff ihrer Jeans hindurch diese wohlige Wärme und fühlte sich augenblicklich besser.
„Gertrud“, sagte das Universalpferdchen sanft. „Natürlich kann der Wunschbaum deinen Wunsch erfüllen. Also, naja, er kann selbstverständlich n i c h t dafür sorgen, dass dieser Erik etwas für dich empfindet, falls es das ist, was du eigentlich willst. Aber er kann dir eine neue Chance verschaffen, ihm zu sagen, was du für ihn empfindest…“
„Wirklich?!“ Gertrud sprang so stürmisch auf, dass Wortwunsch erschrocken zurückwich. „Aber wo liegt denn dann das Problem?“
„Meine Güte“, erwiderte das Universalpferdchen jetzt leicht verärgert. „Wenn du mich einmal ausreden lassen würdest… Also, das Problem ist, dass wir nicht wissen, welchen Erik du eigentlich meinst. Offenbar bist du in deinem Leben bereits 7 von ihnen begegnet.“
Gertrud fluchte laut und lange. Sehr lange. Das Universalpferdchen hielt sich nicht nur die Ohren zu, sondern ging eine Runde schwimmen, noch eine zweite Runde schwimmen und dann zur Abwechslung nochmal eine Runde schwimmen. Als Getruds Fluchen leiser wurde und sie wieder in ganzen und jugendfreien Sätzen sprach, kam es zurück, setzte sich neben sie und hörte zu.
„Hört das denn nie auf. Nur, weil ich mir einmal was gewünscht habe. Ich will doch nur den einen, den letzten Erik, die davor, die waren, na ja, eher nix. Der Erste war der in Klasse sieben, der mit der Pralinenschachtel, der war zu lieb und außer den Pralinen und der Zweite …“
„Es kann nur Einen geben!“, murmelte das Universalpferdchen, gähnte verstohlen und war gerade in einem völlig anderen und falschen Film. Es sah zum Horizont und erkannte dort die Zeichen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, die Welt noch länger anzuhalten, weil Gertrud vor lauter Fluchen immer noch nicht bei Erik sieben angekommen war.
„Nein, sieben auf einen Streich. Kennst du das Märchen?“, fragte Gertrud plötzlich.
Das Universalpferdchen schüttelte mit dem Kopf und musste passen, es hatte bei Erik vier aufgehört, zuzuhören.
„Also, Gertrud. Ich zähle jetzt von sieben ab rückwärts und wenn du bis dahin noch immer nicht weißt, welchen Erik und ob dann diesen einen Erik und was du dem wievielten-auch-immer-Erik sagen willst, dann ist Schluss mit lustig. Also …“ Das Universalpferdchen ließ Gertrud nicht noch einmal zu Wort kommen und zählte rückwärts: „7-6-5-4-3-2-1.“
Getrud holte Luft und in dem Moment klopfte es an der Eigangstür des Schwimmbades. Sie öffnete die Tür und …
… vor ihr stand lächelnd der alte Herr, der schon am Abend zuvor seine Runden im Solebecken gedreht hatte, neben ihm eine große Reisetasche aus abgewetztem Leder. Gertrud hätte den Mann unter seiner dicken Pudelmütze beinahe nicht wiedererkannt. Sie drehte sich hilfesuchend zu Wunschwort um, doch in der Sitzecke lag nur etwas grün schimmernder Staub.
Sie wandte sich dem Überraschungsgast zu: „Was zum Teufel machen Sie denn hier? Sie können nicht einfach im Zeitvakuum auftauchen! Und überhaupt, können Sie nicht lesen? Das Schwimmbad ist geschlossen!“
„Beruhigen Sie sich, bitte. Ich habe durchaus gemerkt, dass Sie mich nicht in Ihrer Geschichte haben wollen“, entgegnete der Mann, der unbeirrt lächelte. „Stattdessen jagen Sie irgendwelchen Träumen, Wünschen, Pferdchen, Fischen und Verflossenen hinterher. Vielleicht liegt der Schlüssel zu Ihrer Sehnsucht aber anderswo?“
Der Mann bückte sich, nahm einen braunen Pappkarton aus seiner Reisetasche und hielt ihn Gertrud entgegen. Die dachte nur: Schöne Bescherung.
Zögernd nahm sie den Karton entgegen. Er war sehr schwer! Was sollte sie bloß damit! Sie hatte so gehofft, das Erik in der Tür gestanden hätte. Erik, der in ihrem Traum bereits das grün leuchtende Etwas vom Boden des Schwimmbades geborgen hatte. Und nun dies! Andererseits strahlte der alte Herr Vertrauen und Sicherheit aus. Vielleicht konnte der Inhalt seines Kartons doch helfen? Nachdenklich blickte sie auf diesen hinunter. Als sie wieder aufblickte, war der Überbringer verschwunden. Es wurde ja immer schöner! Sie kam sich vor wie im falschen Film.
Sie schleppte den Karton ins Bad zurück zu ihrer Plastikliege und setzte ihn schwer atmend darauf ab. Der Bademantel lag auch noch dort. Sie schüttelte den Kopf. Längst hätte sie ihn entsorgen sollen! Es bringt nichts, an alten, überholten Dingen zu hängen und Unnützes aufzubewahren. Dann wandte sie sich wieder dem Pappkarton zu. Was mochte der Herr wohl Geheimnisvolles darin mitgebracht haben, von dem er meint, dass es besser sei als ihre Träume und Wünsche, ja mehr noch, sogar der Schlüssel zu ihrer Sehnsucht? Woher sollte er wissen und wie sollte so etwas jemals in einen Karton passen. Sie war ein kleines bisschen wütend, weil scheinbar nichts funktionierte. Aber sie war auch neugierig. Vorsichtig und zugleich gespannt hob sie ganz langsam den Deckel an. Wenn jetzt nicht bald etwas Entscheidendes geschah, würde sie nie an das grün schimmernde Etwas im Schwimmbecken herankommen. Sie atmete tief und spürte ihr Herz vor Aufregung heftig schlagen. Da! Was sie vorfand, war ein langes Seil mit einem Magneten und einer Art Suppenkelle am unteren Ende . Sie hob es an und fand es sehr schwer. Das war kein normales Seil, das war ein Ankertau, mit Blei beschwert. Früher hatte sie einige Bootstouren mit ihrem Onkel und ihrer Tante unternommen, daher kannte sie solche Taue. So eins mit Blei wird eben für Bootsanker benutzt, damit es unter Wasser bleibt und den Anker hält. Sie betrachtete stirnrunzelnd das Ende des Taus mit dem Magneten und der Kelle und bewegte es nachdenklich hin und her.
Und was sie faszinierte, war weniger dieser seltsame Fund in einem Pappkarton, ihr geschenkt von einem vermeintlich Unbekannten. Was sie voll und ganz gefangen nahm, war die Klarheit, mit der sie mit einem Mal ihre Gedanken sah – ja, bald körperlich fühlte! Das Labyrinth der vielen Wege, Irrewge, Kreise und Knoten in ihrem Kopf wurde zu einem geraden Pfad. Und sie wusste nun: Wie Blei hatten ihre Gedanken sie in der Vergangenheit gelähmt, wie ein Tau gefesselt. Erik – wie ein Magnet hatte die Vorstellung von ihm alle Energie auf sich gezogen in ihrem Kopf. Doch nun war sie frei, frei selbst zu wählen, zu fühlen. Und ihren Wunsch zu bergen. Der Wunsch der doch nur so einfach wie lebenswichtig war. Der Wunsch, der nur aus einem Wort bestand. Sie betrat den neuen Pfad ihres Lebens. Sie ließ allen Ballast fallen, ging wie in Hypnose und doch so klar wie noch nie zum Becken und sprang mit einem leichten, regenbogenförmigen Kopfsprung hinein.
Nach zwei kräftigen Schwimmzügen unter Wasser tauchte sie wieder auf – es war nicht das Eintauchen, sondern ausschließlich das senkrechte Hinabtauchen bis zum Boden des Solebades, das ihr eine solche Angst bereitet hatte –, drehte sich auf den Rücken und ließ sich schwerelos in dem salzhaltigen, warmen Wasser treiben. Durch die Glaskuppel im Dach betrachtete sie den verhangenen Himmel, der jeden Blick auf den Mond am Morgen verhinderte. Auf einmal löste sich erneut etwas Leuchtendes aus dem trüben Einerlei, fiel durch das dicke Glas hindurch direkt neben ihr ins Wasser und sank schwach schimmernd zu Boden.
„Natürlich! Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin! Der Mond hat mir eine seiner Tränen geschenkt.“ Wie oft hatte sie mit ihrer geliebten Großtante Schumanns Vertonung des Rückert Gedichtes „Der Himmel hat eine Träne geweint“ gehört und sich dabei einen kugelrunden Vollmond vorgestellt, dem nach und nach eine Träne aus dem Gesicht kullert.
„Der Himmel hat eine Träne geweint,
Die hat sich ins Meer zu verlieren gemeint.
Die Muschel kam und schloß sie ein;
Du sollst nun meine Perle sein.
Du sollst nicht vor den Wogen zagen,
Ich will hindurch dich ruhig tragen…“
(Friedrich Rückert)
Und wie oft hatte ihre Großtante ihr die Geschichte vom Zauber der Mondtränen erzählt, die – wenn sie auf die Erde sinken – Wünsche in Worte verwandeln können. Einfach so. Damit wir sie besser verstehen und auch benennen können, damit sie nicht Wünsche bleiben müssen, sondern auch in Erfüllung gehen dürfen.
Langsam formte sich im Innern Gertruds ihr Wunschwort, sie spürte, wie die Buchstaben und Silben zunächst zueinander fanden und dann nach außen drängten.
2 Kommentare
Na, das ist eine fantasievolle Geschichte!
Eine schöne Überraschung zum 22. Dez..
Liebe Grüße
Ursel
Liebe Ursula,
ja, das finde ich auch. Es macht mir einfach sehr viel Spaß, gemeinsam mit anderen eine Geschichte zu entwickeln, da es immer wieder überraschende Wendungen und Drehungen gibt und schließlich doch alles rund wirkt. Ein Schreibexperiment der besonderen Güte – insbesondere zum Advent, in dem es um Besinnung und Ankunft geht…
alles Liebe und frohe Weihnachten dir und deiner Familie
Hedda