Wandern auf hohem Niveau
„Wandern auf hohem Niveau – davon habe ich schon immer geträumt“, sagte die Weinbergschnecke zum Girlitz, als er sich neben sie setzte und sein gelbes Gefieder sorgsam zu putzen begann.
„Du hast es gut, du kannst hier auf dem Boden sitzen bleiben oder dich in die Lüfte erheben, du kannst auf den Rebstöcken Platz nehmen und ständig deinen Blickwinkel ändern. Ich hingegen krieche immer nur über die Erde und hänge irgendwie in meinem Schleim fest.“
„Na und? Dafür hast du ständig dein Haus bei dir, weißt du eigentlich wie praktisch das ist? Ich fange jedes Jahr von Neuem an ein Nest zu bauen, Reisig zu sammeln und Federn und … und … und wenn ich Pech habe, überlebt keiner meiner Nachkommen. Das kann dir nicht so leicht passieren. Außerdem finde ich es ganz schön, auch mal zur Langsamkeit verdammt zu sein.“
Die Weinbergschnecke stutzte kurz, dachte nach, doch der Traum vom Wandern auf hohem Niveau ließ sich nicht einfach so mit zwei, drei billigen Argumenten vom Tisch fegen. Sie blieb dabei und malte sich aus, wie es wohl sein müsste, einen Rebstock hinaufzuklettern und freie Sicht ins Tal zu haben.
Neben ihr sonnte sich die Mauereidechse. „Ich weiß gar nicht, was ihr beiden habt. Liebe Schnecke, wir befinden uns hier bereits auf 150 Metern über dem Meeresspiegel, wie hoch willst du denn noch hinaus? Und du, Girlitz, scheinst im schwäbischen Weinberg die optimalen Bedingungen für deinen Nestbau gefunden zu haben. Was soll sich denn noch alles verbessern? Und wer erzählt dir eigentlich, dass du ständig durch die Gemarkung flattern musst und nicht Pause machen darfst?“
Plötzlich bogen zwei Wanderer um die Ecke, sie liefen stumm hintereinander her, Schritt für Schritt, der Atem des einen ging bedenklich schwer, der zweite lief leichtfüßig hin und her, es sah so aus, als tänzele er zwischen den prallen blauen Trauben, die überreif an den Stöcken hingen. Beide waren auf ihre Weise vergnügt, denn der hochgewachsene schlanke Mitvierziger lief einfach die doppelte Strecke – einmal vor, einmal zurück und fotografierte während der zusätzlichen Meter Spannendes am Wegesrand für den gemeinsamen späteren Abend und der andere hielt alle zwei Meter an, um begeistert auszurufen: „Nein, diese Aussicht, diese wundervolle Aussicht!“ Die drei Tiere beobachteten die beiden erstaunt und begriffen:
So ist die Moral von der Geschicht`:
vergiss dein eignes Tempo nicht,
und hoch muss niemals höher sein,
und langsam niemals schneller,
niveauvoll wird’s von ganz allein,
ob oben, ob im Keller.
6 Kommentare
Liebe Hedda,
was für eine schöne und weise Parabel mit Gedicht!
„und hoch muss niemals höher sein“ – ist mein Lieblingssatz.
Danke dafür!
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Ulrike,
herzlichen Dank für deine Rückmeldung. es ist wirklich spannend aus Worten, die mir im Alltag begegnen kleine Geschichten zu bauen. Poesie ist eben überall in unserer Welt zu finden, wir müssne nur genau hinsehen.
Und ich freue mich schon riesig auf unsere Blog-Parade.
alles Liebe
Hedda
Immer gerne, liebe Anne..
Liebe Hedda,
ja, das eigene Tempo erkennen und akzeptieren und sogar schätzen zu lernen, für mich scheint es eine Lebensaufgabe zu sein…Wenn ich mal wieder ungeduldig werde, dann fällt mir hoffentlich Deine Weinbergschnecke ein. Danke für diese besinnliche Geschichte
Liebe Grüße
Anne
Liebe Hedda,
wie wahr, wie wahr, vergiss dein eigenes Tempo nicht,
danke fürs Erinnern,
liebe Grüße,
Mia
Sehr gerne, liebe Mia,
ich habe bei diesem Beitrag gemerkt, dass ich inzwischen deutlich lässiger mit den Hochladen meiner Texte werde. Ob das so sinnvoll ist, sei noch dahin gestellt, aber schön, wenn es dich an dein Tempo erinnert.
Schneckengrüße
Hedda