Und silbern glänzt der See
„Silbersee – sag mal ist das nicht der See, an dem sich Oma und Opa das erste Mal geküsst haben?“ „Ja, das kann sein, ich erinnere mich nur vage an die Geschichte, aber ich glaube, du hast recht!“ „Weißt du noch, wie sie genau geht? Ich kann mich lediglich an das Wort Silbersee erinnern. Erzähl doch mal, was du noch weißt…“
Frieder kratzte sich am Kopf, schloss kurz seine Augen, als wolle er auf dem abgewetzten Sitz einer Zeitmaschine Platz nehmen und begann mit leicht gebrochener Stimme die Geschichte seines geliebten Großvaters zum Leben zu erwecken.
„Als unser Opa fünfzehn Jahre alt war, durfte er im Sommer 1935 zum ersten Mal sein Elternhaus verlassen, um gemeinsam mit seinen vier Brüdern zu einem Pfadfinderlager zu fahren. Als Ältester musste er sich seine Rechte schwer erkämpfen, darunter hat er Zeit seines Lebens gelitten, das hat er mir immer und immer wieder erzählt.
Es war eine Vollmondnacht, in der es passierte. Die Jungs hatten ihre Zelte in der Nähe eines Sees aufgeschlagen und waren in der ausgehenden Dämmerung noch einmal dort hingegangen, um zu schwimmen. Da dieser See abgelegen irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern lag und weit und breit keine Menschenseele zu erkennen war, sprangen sie alle nackt ins Wasser, doch Opa war immer prüde – du kennst ihn ja – und ließ seine Badehose an, die ihm damals bis zum Bauchnabel reichte.
Auf einmal knackte es im Unterholz und er erschrak fürchterlich. Der Rest der Truppe balgte sich im Wasser, er war jedoch am Ufer geblieben, um auf die Kleidung aufzupassen. Falls doch mal jemand kommen würde, man wusste ja nie. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und stapfte tapfer in die Richtung, aus der er nun ein Schluchzen vernahm.
Und da saß sie. Ihr roter Lockenkopf war eingerahmt von Brombeerranken, ihr bleiches Gesicht, die Arme und Beine blutig zerkratzt, er konnte die Verzweiflung sehen, mit der sie versucht hatte, sich ein Weg Richtung Wasser zu bahnen.
„Was machen Sie denn hier, junges Fräulein?“ „I-i-i-ich h- h- h- habe mich verlauauauauauaufen,“ schniefte sie und schien untröstlich.“
„War´s das schon?“ „Ja, an mehr erinnere ich mich nicht, ich weiß nicht, ob er sie dann zum Zelt ihrer Eltern gebracht hat oder ob sie gemeinsam mit den anderen zum Campingplatz gegangen sind, ich weiß nicht, ob sie sich für den nächsten Abend alleine verabredet haben oder wann sie sich wiedergesehen haben und erst recht weiß ich nicht mehr, wie es zu diesem ersten Kuss kam, ob er sie oder sie ihn geküsst hat. Das wäre ja eigentlich mal interessant zu wissen!“
„Bestimmt hat er sie zuerst geküsst, das war doch damals immer so.“
„Ich weiß nur noch, dass sie den See Silbersee getauft haben, weil seine glatte Oberfläche bei Vollmond so geheimnisvoll silbern schimmerte und dass er eigens für sie diesen Fisch aus Holz gesägt und bemalt hat. Zur Silberhochzeit. Und dass sie deshalb so sehr das Shampoo mit dem Namen „Silver“ liebte, das ihr graues Haar in ein strahlendes Silber verwandeln sollte. Aber das hat nie funktioniert. Mehr weiß ich nicht.“
Frieder kratzte sich wieder, diesmal am linken Ohrläppchen. Seine Schwester Leni klappte das Fotoalbum zu, schüttelte sich kurz, drehte gedankenverloren den in sich verschlungenen Silberring an ihrem linken Mittelfinger und seufzte tief: “ Ich kann es immer noch nicht fassen!“
4 Kommentare
Liebe Hedda,
sehr schön beschrieben, mit einer Träne im Auge habe ich die beiden gesehen, traurig, schön und eben besonders, was du aus „Fundstücken“ schreibst,
danke,
Mia
Liebe Mia,
ich finde ja, es liegt ein silberner Schimmer, eine Patina aus vergangenen Zeiten über dieser kurzen Geschichte. Was das Wort silbern doch alles auslösen kann…..
Liebe Grüße
Hedda
Du hast den Sibersee zum Leben erweckt. Und den Opa und seine Liebesgeschichte auch. Schööön…
Liebe Ursula,
ja, es war mir ein Bedürfnis über den Silbersee zu schreiben. Beim Verfassen meiner Blogbeiträge merke ich immer wieder, dass die Welt voller Schreibanregungen steckt. Überall kann ich Buchstaben fotografieren und aus ihnen Geschichten purzeln lassen. Ich möchte damit nochmal dich und alle anderen Kommentatoren*innen ermuntern, aus diesen Worten eure eigenen Geschichten zu entwickeln und gerne hier hochzuladen.
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Hedda