Nähglück
Sie trafen sich jeden Mittwoch um Punkt 18.00 Uhr bei Meesebergs in Panschwitz-Kuckau in der Oberlausitz. Die Abnehmgruppe unter der Ägide von Friederike Schönborn, die sich nicht wie ursprünglich vorgesehen Abnehmgruppe nennen wollte, sondern spielerisch Abnäh-Gruppe nannte. Als könne man Kilos einfach abnähen. Aber sie fanden das Spiel mit den Worten witzig und verabscheuten den Begriff abnehmen. Sie wollten bloß ein paar Kilogramm weniger wiegen und sich nichts abnehmen lassen. Das Präfix ab bedeutet fort/weg hatte Ihnen Frau Kowalski, die Deutschlehrerin in ihrer Runde, bedeutungsschwanger am Abend der Gründung erklärt. Und wenn schon ab, dann wenigstens in Kombination mit ihrer großen Leidenschaft, dem Nähen und Verarbeiten von Stoffen.
Sie hatten sich eines Tages aufgrund eines Zeitungsinserates gefunden, die drallen Damen aus Panschwitz-Kuckau und ihr Süßstoff bestand ab dem Moment nicht mehr aus Schokolade, Buttercreme oder frittierten Kartoffelstäbchen, ihr Süßstoff bestand aus Samt oder Seide, aus Frottee oder Leinen, aus Crêpe, Taft oder schlicht aus Baumwolle. Bei Meesebergs gab es am meisten Platz im Haus – kein Wunder Herr Meeseberg hatte das Objekt von seinem Urgroßvater geerbt und da es in seiner Familie nie mehr als ein Nachfolgekind pro Generation gab, gehörte ihm heute alles – , darum trafen sich die Abnäherinnen dort jeden Mittwochabend zur fröhlichen Stoffschlacht.
Die Nähmaschinen surrten leise im Hintergrund, während die wichtigsten Dorfangelegenheiten der vergangenen Woche lauthals besprochen und hier und da mit kritischen Anmerkungen versehen wurden. Das war jedes Mal ein Fest. Herr Meeseberg zog sich währenddessen geflissentlich in sein Herrenzimmer zurück, der Verlust von Kilos wurde von allen indes zur Nebensache erklärt. Gewogen wurden lediglich die Ballen, wenn die Damen beschlossen sich untereinander stofflich auszutauschen.
Ihre Leidenschaft zog Kreise. Bald stießen die Frauen von Räckelwitz, Crostwitz und Nebelschütz dazu, als ihr Ruf schließlich bis nach Bautzen und sogar bis nach Hoyerswerda eilte, war die Nähstube bei Meesebergs trotz der 50 Quadratmeter endgültig zu klein. Eine neue Lösung musste her.
Friederike besprach sich mit ihrem Mann Georg und der schlug vor, dass sich die Frauen mit ihrer Idee selbstständig machen sollten. Abnähkurse statt Abnehmkurse – das Modell hatte sich in der Tat bewährt. Vor lauter Nähen und Erzählen hatten die Teilnehmerinnen nämlich tatsächlich Gewicht verloren, denn sie trafen sich nun mehrmals in der Woche und ihre Leidenschaft packte sie so, dass sie keine Gedanken mehr an das Essen verschwendeten, sondern stattdessen in Patchwork-Decken und Kurzarmkleidern aufgingen.
So prangt seit einiger Zeit, um genau zu sein seit fünf Jahren, vier Monaten und einem Tag, nun an der Schule von Panschwitz-Kuckau ein grünes Banner mit der Aufschrift:
„Süßstoff – Stoffe, Wolle & Kurse“. Das Nähglück der Damen ist perfekt und wenn sie nicht gestorben sind, dann nähen sie voller Leidenschaft noch heute.
2 Kommentare
Liebe Anne, das kommt davon, dass ich die Masterarbeit bebrüte wie eine olle Henne ihr Ei. Und während ich so brüte und brüte, kommen dann solche Einfälle. Ich habe schon geguckt, wo ich den Abnäher bei mir setzen könnte;) !
Das nächste Mal schreibe ich, glaube ich, ein Nonsense-Gedicht. Ich weiß übrigens nicht, ob du diese Idee auf Worte hinzuschreiben schon mal ausprobiert hast, aber ich finde es deutlich schwieriger als wenn ich den Anfang des ersten Satzes bereits habe und sich daraus eine Geschichte frei entwickeln kann.
Und wenn du oder die anderen Leser*innen noch eine Idee hat, wie ich Worte anders einbinden kann, dann nur zu. Ich dachte schon mal an eine Fortsetzungsgeschichte, in der nach und nach die einzelnen Figuren aus dem Blog auftauchen könnten.
Beste Grüße an diesem nebelgrauen, inzwischen dunklen Abend.
Hedda
Liebe Hedda,
Applaus, Applaus zu diesem wunderbaren Text. Das Thema ist einfach nur gut. Abnähtruppe statt Abnehmgruppe!!! Das ist genial. Und sprachlich ist er Dir ebenfalls sehr gelungen. Die drallen Damen, die sich bedeutungsschwanger über Präfixe unterhalten und diese mal lieber für sich behalten wollen und dann in den stofflichen Austausch gehen, Das sind köstliche Bilder. Du begleitest ein eigentlich sehr ernstes Thema mit einer Leichtigkeit, die mir ein Dauerlächeln aufs Gesicht zaubert. Dein Text fühlt sich an wie ein langsam schmelzendes Karamellbonbon. Und am Ende bin ich traurig, wenn es aufgelutscht, oder eben ausgelesen ist.
Ich bin begeistert.
Liebe Grüße
Anne