Schillers schwere Tage aus: Tagebuch einer Schreibenden
Mittwoch, 28.08.2019, 10. 21 Uhr, beim Tierarzt im Wartezimmer
Was ein ungewöhnlicher Ort zum Schreiben und was für eine ungewöhnliche Zeit. Da ich jedoch niemals das Haus ohne Stift und „die Geduldige“ verlasse, bin ich gerüstet und überbrücke mit Schreiben die Zeit bis Schiller zurück ist aus der Narkose-Überwachung. Schiller und Goethe, meine beiden Möpse, apricotfarben der eine – Schiller –, schwarz der andere – Goethe -, sind mein ein und alles und ausgerechnet der sechsjährige Schiller brauchte heute eine OP wegen seiner Patellaluxation links. Seine Kniescheibe stand irgendwo, aber nicht dort, wo sie hingehörte und der Arme hinkte so, dass ich schweren Herzens dem Eingriff zustimmte. Nun sitze ich hier zwischen einer Schildkröte (schätzungsweise 10 Jahre alt), einer alten Boxerhündin, deren rechtes Auge trieft und auch ein bisschen hängt, einem dicken Kartäuser-Kater, der sich ängstlich aus seiner rosafarbenen Katzenbox das Treiben betrachtet und einem Chinchilla, das vermutlich auf seine Impfung wartet. Ich erspare mir die Beschreibung der Besitzer*innen und widme mich wieder meinen Gedanken über das Schreiben.
Kann ich Worte zähmen oder springen sie mich wie wild gewordene Tiere einfach so an? Und wie fühlt sich das an, wenn ich mich den Worten einfach so überlasse, sie nicht zensiere, nicht in einen Wortekäfig sperre, sondern ihnen Freiheit schenke? Das nennt man freewriting und für mich ist es eine der innigsten Wortbeziehungen, die ich überhaupt kenne. Es darf sprudeln, aus mir heraus, ich denke nicht über die Grammatik nach, nicht über Punkt oder Komma, ich überarbeite diese Texte nicht, sie führen mich direkt zu mir, zu meinen inneren Bildern und Gefühlen, ungeschminkt und direkt. Peter Elbow hat recht, wenn er behauptet, dass der Geist am besten arbeiten könne, wenn man ihm keinerlei Regeln unterwirft. Und es fühlt sich gut an, alle Verpflichtungen einmal abzustreifen und frei zu schreiben. Als hätte ich meine Alltagssilben abgestreift wie ein altes, zu eng gewordenes Kleid und würde in meinen eigenen Wortsee eintauchen, um neue Kraft zu schöpfen.
„Frau L., Schiller kann aus dem Aufwachraum abgeholt werden. Ihm geht es gut.“ Frau Breeses heisere Stimme reißt mich jäh aus meinem Gedankenstrom. Das Leben hat mich wieder. Ich eile zu Schiller, der noch selig schlummert, und nehme mir fest vor, mich heute Abend beim Aufziehen der Venus zehn Minuten frei zu schreiben.
Donnerstag. 29.08.2019, 15.16 Uhr am Esstisch. Goethe schnarcht vor sich hin und Schiller öffnet gerade sein linkes Auge, möglichweise, um mir anzudeuten, dass ich mich ja nicht wegbewegen soll.
Wir haben anstrengende Stunden hinter uns, Schiller und ich. Schiller zu verstehen, ist nicht ganz einfach, aber heute geht es ihm deutlich besser, soviel kann ich berichten.
Morgen muss ich in den Alltag zurück, daher nutze ich heute noch die Zeit, ein bisschen über Sprache nachzudenken. Spricht Schiller mit mir, wenn er sein Auge öffnet oder bilde ich mir das nur ein? Was braucht es, um die Sprache des anderen so zu verstehen wie sie gemeint ist? Oder reicht es, wenn wir das verstehen, was wir verstehen wollen? Ich werde mal A. dazu befragen und bin gespannt auf ihre Antwort.
Samstag, 31.08.2019, 22.05 unter einem regnerischen Himmel am Schreibtisch in meiner Stube
Ich bin müde. Trotzdem treibt mich die Neugier an den Schreibtisch, ich möchte wissen, was A. auf meine Frage geantwortet hat.
„Im Dialog mit Dir oder einem anderen mir nahestehenden Menschen, möchte ich Deine Sprache verstehen, wie Du sie gemeint hast. Was es dazu braucht? Einen Gleichklang der Sprache des Herzens vielleicht. Die andere kennen, mit der anderen mitfühlen. Sich trauen nachzufragen. Die Fähigkeit zu zuhören und die andere so zu belassen, wie sie ist. Also braucht es Herzenswärme, offene Ohren und einen freien Geist. Ganz schön viel auf einmal und sicher nicht immer verfügbar im Trubel des Alltags. Aber in Situationen, in denen man sich aufeinander einlässt, unabdingbar.“
Ja, genau das ist es. Sprache zu verstehen, bedeutet zuhören zu können. In einer Zeit, in der Buchstaben rasend schnell, scheinbar magisch, durch die Lüfte sausen, keine Kilometer kennen und scheuen, genau in dieser Zeit geht es mehr denn je darum, hinzuhören, zu lauschen und bei Unklarheiten nachzufragen.
Sprache braucht Fragen und vielleicht ist es dann so, wie Rainer Maria Rilke an den jungen Dichter Kappus geschrieben hat. „Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossenen Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“
Es sind die Fragen, die das Gehörte präzisieren können, die nach Antworten rufen, wobei auch keine Antwort eine Antwort sein und jede Antwort eine neue Frage aufwerfen kann. Uuuuh, das Nachdenken über Sprache macht mich ganz schwindelig – moment mal, es klingelt gerade Sturm an der Tür. Wer weiß, welche Frage dort schon wieder auf mich wartet…
Sonntag, 01.09.2019, 12.05 Uhr, Zustand nach Brunch, mit „der Geduldigen“ auf dem Schoß in der Ecke eines Ausflugslokales an der Mosel
Nur schnell, damit ich es nicht vergesse. Werden meine Worte und ich mit mir gemeinsam alt? Kam mir gerade in den Sinn, ich muss diesen Gedanken unbedingt weiter verfolgen.
5 Kommentare
Liebe Hedda,
wie wäre es, wenn PPflaumenaugust auf Plaudertasche träfe? Sie würden flanieren am Feldrain entlang und sich gegenseitig Lobeshymnen zuraunen..
Liebe Grüße
Anne
Liebe Küchenmarie,
vielen Dank für deinen Kommentar und dein Lippenbekenntnis zum Erhalt alter Worte. Ich versuche auch, Worte wie schlummern oder schmausen oder… oder… im Sprachschatz zu erhalten und denke, dass viele „alte“ Worte lautmalerisch zeigen, was sie ausdrücken wollen. Mein neues Lieblingsaltwort ist „Pflaumenaugust“ – als Ausdruck für einen windigen Gesellen….
Beste Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
ich schmelze bei diesem Rilke-Zitat dahin!!! Man soll die Fragen lieb haben, um eines fremden Tages allmählich in die Antworten hinein zu leben, rät der kluge Mann. Ich rufe innerlich: Ja, ja, ja, merke aber schon, wie die Ungeduld wach wird und an meinen Fragen rumzerrt.
Faszinierend finde ich ja Deine Frage, ob Du und Deine Worte miteinander alt werden. Haben Worte Alter? Verändert sich der eigene Sprachschatz, wenn man älter wird? Schon wieder Fragen. Ich kann für mich nur sagen, dass ich je älter ich werde, um so lieber „alte“ Worte benutze. Es fällt mir leider grad kein Beispiel ein. Aber ich mache es glaube ich, weil ich stolz bin, diese aus der Mode gekommenen Worte zu kennen und mich damit gegen die oft verkürzte Jugendsprache abzuheben. Mit ‚alten‘ Worten kann man besser malen.
Liebe Grüße
Anne
Liebe Hedda,
hast du gerade einen Wechsel von lautem, fröhlichem Lachen und einem tiefen, weil so verbunden fühlendem Seufzer gehört?
Nein? Schade!
Ja! Das war ich!
Wie „wunder-schön“ dieser Text nach einem solch scheußlichen Montag ist, das muss ich dir nicht schreiben. Er ist mein kleines, großes Abend-Highlight von Schiller, dem mein ganzes Mitgefühl gilt und Goethe und Rilke – mein Lieblingszitat seit Jahren und und und … Zeilen zum Hineinlegen und nur noch „Zu-Hören“ sein …
Ja, liebe Hedda, schreib weiter, ich bin ganz nah bei dir und horche auf jedes noch so kleine Wort …
Verbundene Grüße,
Mia
Liebe Sabine, liebe Worthörende,
deine Worte haben den inneren Zensor augenblicklich gen Mond befördert, was mir ein bisschen Zeit gibt, befreit drauflos zu schreiben. Free- writing eben…
Vielen Dank dafür und hab einen buchstabenlebendigen Tag…
alles Liebe
Hedda