Blockaden – ungeahnt
Es ist Samstag früh in einem Speisesaal einer psychosomatischen Klinik (www.systelios-klinik.de). Speisesaal ist der falsche Begriff, dieser Raum wirkt eher wie ein Tanzsaal, in dem Tische und Stühle gruppiert stehen. Ein Raum, der auf üppige, fast verschwenderische Weise Raum schenkt. Die bodentiefen Fenster geben den Blick auf die sanften Hügel des Odenwaldes frei. Wiesen werden unterbrochen von Wäldern, deren Bäume ungeduldig auf die Frühlingswärme warten, ich ertappe mich beim Träumen.
Das Frühstück ist beendet, die Klienten der Klinik und ihre Gäste – ja, hier sind auch Kinder willkommen – zerstreuen sich im Haus und der Umgebung. Hier und da vernehme ich noch ein leises Murmeln oder Geschirrgeklapper in der Küche, es ist, als hätte das Frühstück seinen eigenen frühen Klang. Obwohl das Haus sehr modern und klar gestaltet ist, kommt mir die Idee des Mann´schen Zauberbergs und ich schweife gedanklich ab in die Welt der Sanatorien um 1900.
Hier zu schreiben, fällt mir trotz der Ruhe und der Entschleunigung, die hier gelebt wird, schwer. Ich bin abgelenkt durch all die Geschichten und Biographien, die hier im Raum hängen als würden sie unsichtbar an irgendwelchen Klebstreifen haften bleiben.
Wie viele Menschenseelen haben hier schon auf Gesundung gewartet? Gesundung in Gemeinschaft – fernab vom Wahnsinn des Alltags, fernab von jener hektischen Betriebsamkeit, die mit Wucht ungerichtet und sinnentleert daherkommt, dass wir sie nicht mehr ertragen können. Eine normale Reaktion, wie ich finde und freue mich darüber, dass es Orte wie diese für uns Menschen gibt. Erinnerungen an Besuche von Klöstern schießen mir unweigerlich in den Kopf – schon wieder abgelenkt, denke ich und versuche mich zu fokussieren.
Auf dem Tisch stehen frische Blumen, Ranunkeln in Gelb und Rot, Vasen mit Tulpen – schlicht und ohne Beiwerk. Reduktion auf das Wesentliche, back to the roots, wie wohl genau das tut. Weniger ist mehr, wann verstehen wir das endlich?
Ich bemühe mich erneut, mich auf meinen Text zu konzentrieren, doch der Wunsch, den Schicksalen nachzuspüren, dominiert und meine Phantasien gehen mit mir spazieren. Der Mensch ist nicht nur des Menschen Wolf, bemerke ich, sondern auch seine Inspiration. Wie geht wer mit welchen Herausforderungen um? Es gibt einfach so unendlich viele Varianten von Handlungen und Lösungsansätzen, von Erlebtem und Geträumtem, kein Wunder, dass die Literatur sich so vielfältig vor uns ausbreitet.
Beim Schreiben in diesem Raum stockt der Stift ( und nicht nur der!) ständig, das beobachte ich, als wolle er einhaken, nachfragen, ergründen, was die Ursache für wie auch immer geartete, noch ungeahnte Blockaden ist. Ich gebe daher auf, bin ziemlich unzufrieden mit dem Auf und Ab, dem Hin und Her meines Textes und beschließe, mich lieber wortlos diesem Ort und seinen Menschen zu nähern.
6 Kommentare
Liebe Hedda,
was für eine interessant Idee!
Wenn ich mich nun frage, an welchem Ort ich am kreativsten wäre, dann wäre es der Ort, der dich ungeahnt blockierte. An diesem Ort könnte ich sicher hervorragend lesen, zeichnen oder Konzepte erstellen. Es sind gerade diese vorausgesetzten Schicksale, die in Kliniken ein- und ausgehen und das eigene Dasein und Tun relativieren.
Ich wäre unsichtbarer Beobachter, da mich kein Schicksal, keine Belastung an diesen Ort getrieben hätte. Eine Raumschleuse, die mir eine Plattform böte, mich nicht zu wichtig zu nehmen und kreativ zu sein, ausschließlich der Sache wegen…
Ich danke dir für diese überraschende Erkenntnis!!!
Deine Petra
Liebe Petra,
das ist eine spannnende Überlegung. Aus dieser Perspektive habe ich das Schreiben in einem Speisesaal einer psychososmatischen Klinik noch gar nicht betrachtet.
So erweitert das Schreiben und Lesen immer wieder unseren Horizont, nicht wahr? Vielen Dank für deine Anregung.
Hedda
Liebe Hedda,
dein Text hat mich sehr berührt und meinen Atem ein bisschen zum Stocken gebracht, weil ich solch einen Ort schon kennengelernt habe. Seinerzeit habe ich das biografische Schreiben als Weg ins Innere, zur Reflexion und zur Entlastung entdeckt.
Ich finde, Schreiben hat immer viel mit Empathie zu tun. Und wenn man nicht in sich selbst hinein horcht, sondern ins Außen – sich einfühlt in den Raum, die Atmosphären und vor allem auch in die anderen Menschen – dann wird man als Schreibender fast zu einer Art Medium.
Wie du die geisterhafte Anwesenheit all der Menschen mit ihren Geschichten und ihrem Schmerz im Raum beschreibst, kann ich total nachempfinden. Eine Überflutung.
Aber genauso einfühlsam ist auch deine Erkenntnis, dass in manchen Momenten der Ausdruck ohne Worte der Richtige ist. Das Bild mit der weichen runden Blume ist ein schöner Ausklang.
Vielen Dank dafür!
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Ulrike,
vielen Dank für deinen Kommmentar, den ich empfinde, als reichest du mir deine Hand, ganz still. Ja, schreiben hat viel mit Lauschen zu tun, finde ich. Vor lauter Lauschen und Staunen sei still, du mein tieftiefes Leben – diese Gedichtzeile von Rilke begleitet mich oft beim Schreiben und erinnert mich an die Bedeutung des Innehaltens im Dialog mit dem Wort.
Dass wir als Schreibende manchmal wie eine Art Medium sind, fühle ich ähnlich. Ich glaube inzwischen auch, dass es die Worte sind, die wir aus unseren tiefsten Tiefen bergen, diejenigen sind, die unsere Leser am intensivsten berühren.
Es freut mich, dass du mich auf meiner Schreibortreise begleitest.
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
ja, manchmal gibt es Orte, von denen man denkt, man kann dort gut in den Schreibfluss kommen und es gelingt doch nicht. Ist dieser Ort dann zu besetzt von anderen Dingen, dass man nicht wirklich in sich hinein horchen kann und abgelenkt ist, von den Energien die andere in diesem Raum hinterlassen haben? Ich weiß es nicht. Wenn Du Gelegenheit hast, versuch es doch zu einer anderen Zeit noch mal, vielleicht verrät Dir das mehr über das Warum der Blockade?
Liebe Grüße
Anne
Liebe Anne,
kann Materie Gedanken speichern – das habe ich mich auch gefragt, während ich in diesem Speisesaal saß. Ich werde dem sicher weiter nach spüren, denke aber, diese Frage werden wir wohl derzeit mit unseren Nachweismethoden nicht abschließend klären können. Aber jeder von uns weiß, dass Räume ihr ganz eigenes Klima haben, das nicht zwingend vom Mobiliar, sondern eher von den Vor- und Jetztbewohnern abhängt.
Vielen Dank, dass du der Frage gedanklich auch nachgehst und liebe Grüße
Hedda