Eine unnachahmliche Stille
20.04.2017, Im Landgericht Koblenz
Bei meiner Abenteuerreise durch mögliche Schreiborte ist es mir wichtig, dass möglichst viele Leser*innen das Schreiben an ähnlichen Örtlichkeiten wiederholen können. So bin ich beim Nachdenken über weitere Schreibplätze heute auf das Land- und Amtsgericht Koblenz gestoßen.
Gesagt, getan, ich mache mich auf den Weg. Die erste Anspannung taucht bereits vor dem Gebäude auf, Mist, ich habe meinen Pass vergessen. Doch der Justizbeamte am Eingang kann sich kaum von seinem Handy lösen und winkt mich ohne Passkontrolle durch. Glück gehabt. Besucher dürfen ohne Ausweispapiere das Gebäude betreten.
Nach einer kurzen Orientierungsphase, welcher Verhandlung ich beiwohnen möchte, sitze ich nun auf einem harten Holzstuhl vor dem Sitzungsaal, in dem eine Schmerzensgeldangelegenheit Gegenstand juristischer Betrachtung werden soll. Die Tür zum Saal ist noch verschlossen, neben mir nimmt ein sehr gepflegt gekleideter Herr mittleren Alters Platz, bei dem ich eine leichte Unruhe verspüre. Er wippt dezent mit den Füßen, schlägt wechselweise ein Bein über das andere und fragt mich, worauf ich denn warten würde. „Ich nehme an einer öffentlichen Verhandlung teil,“ das reicht ihm als Antwort. Am Ende der Verhandlung will er doch mehr wissen und ich lüfte das Geheimnis.
Bereits nach Betreten des Gerichtsgebäudes fängt mein Herz schneller an zu pochen. Gerichte flößen mir Unbehagen ein. Zu oft habe ich erfahren, dass sich mein eigenes Rechtsempfinden nicht mit der Rechtsprechung der Jurisprudenz deckt. Während ich angespannt auf die Verhandlung warte, beschleicht mich aber das untrügerische Gefühl, dass sich der Besuch eines Gerichtes gut zum Schreiben eignet. Hier werden Geschichten und Schicksale verhandelt, an Inspirationen mangelt es also nicht. Wäre da nicht das komische Gefühl tief in mir drinnen, zum Voyeur in einem Moment der Urteilsverkündung zu werden. Das widerstebt mir deutlich. Insofern würde ich das nächste Mal an einem der Tische im Foyer schreiben und neugierig die Menschen um mich herum beobachten. Für heute beschließe ich jedoch, meinem ursprünglichen Plan zu folgen.
Inzwischen schließt ein Gerichtsdiener die Türen zum Saal auf, ich wähle den Eingang für Zuschauer und nehme erneut auf einem unbequemen Holzstuhl Platz. U förmig angeordnet steht am Kopfende eine horizontal zum Raum verlaufende Tischreihe mit Mikrofonen bestückt, an den Schenkeln des U sitzen ein Anwalt und eine Anwältin in ihrem Talar. Es herrscht eine gespenstische Stille in dem Raum. Der Anwalt legt die Finger seiner Hände aneineinander, fast wie zu einem Stoßgebet, sein Blick wandert Richtung Decke, die Anwältin blättert in den Akten. Draußen auf dem Flur vernehme ich laute, energische Schritte, die sich langsam in ein Nichts auflösen. Durch die weißen Lamellenvorhänge am Fenster fällt der Sonnenschein ahnungslos auf den marmorierten beigen Linoleumboden. Der Raum wirkt wie eine Mischung aus Klassenraum und Gefängnis, mir wird beklommen ums Herz.
Auf einmal fliegt eine Tür auf, drei Richter betreten den Raum, raptusartig stehen wir alle auf, der Richter heißt uns jedoch mit einer eher beiläufigen Geste sitzenzubleiben. Als einzige „Öffentlichkeit“ versuche ich mich mucksmäuschenstill zu verhalten, an Schreiben ist erstmal nicht zu denken. Nach der Begrüßung der Anwesenden gibt es Befragungen des medizinischen Gutachters (der gepflegt aussehende Herr von eben) von Seiten der Richter und der Anwälte. Der Sachverhalt wird auf der Metaebene Punkt für Punkt besprochen, es kommt zu keinerlei emotionalen Ausbrüchen. Nur einmal entlockt der Richter den Anwälten ein befreiendes Lachen und lockert damit auch mein Gefühl der Enge.
Als sich die drei Richter zur Beratung zurückziehen, kommt sie wieder – die zum Zerreißen angespannte, unnachahmliche Stille. Wie Rilkes Panther läuft der Anwalt auf und ab, die Anwältin sitzt still, der Gutachter wirkt erleichtert. Ein Urteil wird heute nicht gesprochen, es gibt neue Fristen und ein Diktiergerät war während der gesamten Verhandlung im Einsatz. Wer schreibt, der bleibt, wer diktiert, ebenso. Worte können wie Messer sein, mehr noch, folgt man Hilde Domins Gedicht „Unaufhaltsam“.
Täusche ich mich oder klingen meine Formulierungen heute besonders sachlich und kühl? Beim Wörterzählen stelle ich fest, dass ich 658 Worte geschrieben habe – so viel wie nie zuvor beim Bloggen. Das Gericht ist ein hervorragender Ort zum Schreiben- sag ich doch!
11 Kommentare
Liebe Hedda
Sachlicher nicht unbedingt. Aber vielleicht noch eindringlicher als sonst. Weil Du von diesem Ort anders und intensiver berührt bist als von den anderen. Die Beklommenheit ist spürbar und übertrag sich auf mich. Wie spannend, einer öffentlichen Verhandlung zu folgen. Wäre mir noch gar nie in den Sinn gekommen. Endlich schreibt jemand diesen Satz: „Zu oft habe ich erfahren, dass sich mein eigenes Rechtsempfinden nicht mit der Rechtsprechung der Jurisprudenz deckt.“
Hmmm, ich habe glaube ich auch mein ganz eigenes (Un-)Gerechtigkeitsempfinden. Und würde mich in einem Gerichtssaal schon mal auf Vorrat aufregen, denke ich. So ähnlich wie Du, vielleicht.
Liebe Grüße, Urs
Lieber Urs,
auf Vorrat aufregen ist ein sehr treffender Begriff. Ich dachte ja schon vor dem Gericht, es würde nicht klappen mit meinem Besuch, da ich keinen Pass dabei hatte – also habe ich mich in der Tat auf Vorrat aufgeregt.
Bei Gericht würde ich mit Sicherheit noch einmal schreiben, wenn es mir um diese beklommene Atmosphäre ginge, denn die habe ich in jeder Pore gespürt.
Herzliche Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
ich habe die *Writing Sounds* im Hintergrund beim Lesen deines Beitrages laufen lassen und mich an Gerichtsszenen erinnert, in denen mitgeschrieben und protkolliert wurde …
Ein beklemmender und auch neugierig machender SchreibOrt, den ich zum Glück nur ein wenig aus beruflichen Zusammenhängen kenne und ähnlich einengend erlebt habe.
Warten, sich im Kreis drehen mit Rilkes Panther „und hinter den Stäben keine Welt“ und das Schreiben, die Macht der Worte, die am Ende über Freiheit oder nicht entscheiden …
Meine Lieblingsworte, immer wieder, von Hilde Domin:
*Am Ende ist das Wort,
immer
am Ende
das Wort*
Danke, dass du uns dort mit hingenommen hast,
viele Grüße,
Sabine
Liebe Mo,
vielen Dank für deine Worte. In der Tat sitze ich immer erstmal eine Weile an dem Schreibort, den ich mir aussuche und lausche, was in mir geschieht. Wahrscheinlich entsteht dadurch der Eindruck, ich würde mit dem Ort eine Symbiose bilden – eine sehr interessante Beobachtung finde ich. Als Schreibende habe ich nicht die nötige Distanz, um das wirklich zu beurteilen, merke ich.
Übrigens habe ich mehr und mehr Spaß daran, auch ungewöhnlich Orte zu entdecken und auch mit links zu Gedichten zu verknüpfen, die mir beim Schreiben einfallen.
Auf weitere gemeinsame Abenteuer, denn mit euch Kommentatoren*innen macht es noch mal mehr Spaß!
Alles Liebe
Hedda
Liebe Hedda,
auch diesmal schaffst Du es wieder, die Stimmung perfekt einzufangen. Es ist, als gingen Du, deine Worte und der jeweilige Ort eine Symbiose ein… das ist sehr faszinierend.
Das Gedicht von Hilde Domin kannte ich noch nicht. Es gefällt mir sehr. Rilkes Panther ist natürlich nachwievor ganz großes Lyrik-Kino. 🙂
Liebe Grüße
mo…
Liebe Hedda,
was für ein Kontrastprogramm zu dem letzten Ort, den du dir diesmal gewählt hast!
Ich gestehe, dass auch ich vor Gerichten eher zurückweiche und Respekt habe, obschon meine letzte Erfahrung in den USA alles andere als still, erhebend oder respekteinflößend war (ich war über ein Stopp-Schild gefahren und für so was muss man dort vor dem Richter aufkreuzen). Aber vielleicht fühlt es sich auf deutschen Gerichten anders an. Naja, und es kommt wohl an, was verhandelt wird.
Im Grund denke ich jetzt auch: ist das nicht der Ort, an dem man jede Menge Material bekommen kann?
Ich bin mir unsicher, ob meine Stimmung, meine Voreingenommenheit mich eher hemmen würden. Vielleicht wäre es mal einen Versuch wert …
Danke für die Anregung!
Fe.
Liebe Fe,
das ist interessant, was du von amerikanischen Gerichten berichtest, ich habe gedacht, sie sind viel strikter und ehrfurchtseinflößender als unsere deutschen. In dem Zusammenhang kommt mir die Idee, auch an Ferienorten Schreibplätze aufzusuchen, von denen aus ich berichten könnte.
Vielen Dank für deine Begleitung !
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Ulrike,
vielen Dank für dein Feedback. Mehr und mehr habe ich Spaß, entsprechende links für meinen Text herauszusuchen, um das Ganze atmosphärisch abzurunden. So zeigt der youtube- Einspieler über den Panther haargenau den gleichen Sonneneinwurf auf dem Boden wie ich ihn morgens im Gericht erlebt habe. Und Otto Sanders tiefe Stimme unterstreicht das Dunkle, was in diesen Räumen zu hängen scheint.
Interessant fand ich deinen Vergleich mit liturgischen Ritualen. Rituale stützen, können aber gleichzeitig auch etwas stark einengendes haben, was mir an diesem Schreibort besonders aufgefallen ist.
Übrigens:Die Präzision, mit der bei Gericht vorgegangen wird, kann ich nur bestätigen. Es war, als ob ein Wort zu viel oder nicht richtig ausgewählt weitreichende Konsequenzen haben könne.
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
wie spannend und beklemmend du die Gerichtsatmosphäre beschreibst. Für mich war der Gerichtssaal auch immer ein Ort innerer Anspannung, wenn ich dort beruflich agiert habe – obwohl ich ja teil dieses Rituals war, das mit einer ehrfurchtgebietenden Präzision abgespult wird, die mich immer wieder an kirchliche Liturgie erinnert hat.
Die Vorstellung von Gerichtsverhandlungen ist glaube ich bei vielen Menschen (bei mir vor dem Berufsleben auch) stark durch Hollywood-Filme geprägt und man erwartet vielleicht dramatische Zeugenaussagen und flammende Plädoyers. Die Realität (besonders im Zivilverfahren) ist dann doch sehr viel nüchternen und unspektakulärer – besonders, wenn die Richter und Anwälte unter sich sind (seinen Mandanten lässt man gerne zu Hause).
Aber als Ort der Inspiration für Charaktere und Schicksale, wie du ja auch festgestellt hat, ist der Gerichtssaal trotzdem sehr ergiebig – auch ohne filmreife Gefühlsausbrüche der Betroffenen steckt in jedem Verfahren eine (oft tragische) menschliche Geschichte. Manchmal muss man auch in die Stille lauschen und hinter das Ritual blicken…
Danke auch für den Link zu den Schreibgeräuschen (Kopfkino pur).
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Anne,
vielen Dank für deinen Kommentar – quasi aus erster Hand. Ich war sehr überrascht, wie sehr sich das Gericht als Schreibort eignet, besonders als Ort, an dem man Figuren entwickeln könnte. Zum Beispiel kann ich mir gut vorstellen, dort erste Entwürfe und Skizzen für einen Kriminalroman zu verfassen. Der Schreibstil, der sich dort mir zeigte, war zwar eher nüchtern und kühl, aber das schadet einem Krimi nicht, wie ich finde. Und mich hat diese Stille im Gericht überrascht, die etwas zwischen Schauer und Schauder hatte….
Alles Liebe
Hedda
Liebe Hedda,
ich spüre Deine Beklommenheit aus Deinen Worten deutlich. Es ist für jemanden der dort nur mal vorbeischaut schon eine merkwürdige Welt. Es gibt Rituale und Begrifflichkeiten, die man nicht versteht. Man weiß nicht so wirklich wie die Sache ausgehen wird. Nicht umsonst heißt es Recht haben und Recht bekommen sind unterschiedliche Dinge. Die dunklen Roben tun das, was sie auch sollen, sie vermitteln Respekt bis hin zur Ehrfurcht. Ob das heute noch zeitgemäß ist, mag dahin stehen. Es ist ein bisschen eine Welt, in der die Zeit still zu stehen scheint. Sogar mich, die ich ja in dieser Arbeitswelt zu Hause war, hat Beklommenheit beschlichen, als ich als Privatmensch zu meiner Scheidung vor Gericht erscheinen musste. Von daher kann ich mich noch gut an diese andere Wahrnehmung erinnern. Deine Schilderung gibt die Atmosphäre sehr treffend wieder. Aber ich glaube an diesen Schreibort werde ich Dir nicht kreativ schreibend folgen, denn der ist besetzt vom Urteil schreiben. Und das liegt ja nun Gott sei Dank hinter mir.
Liebe Grüße
Anne