Buchstabensalat aus: Tagebuch einer Schreibenden
Dienstag, 3. September 2019, 06.00 Uhr, am Schreibtisch – noch weit entfernt von jeder Pflicht
Nur schnell, eine Skizze. Gestern, ein Hirschkäfer, auf dem Rücken mit seinen Beinen strampelnd in der Luft. Hilflosigkeit. Mir kam sofort Kafka in den Sinn, Gregor Samsa, die Verwandlung und die Übung aus dem Studium, die unser Romanprojekt vorbereiten sollte. Muss dringend den Text dazu heraussuchen.
Pubertät trifft Klimakterium, meine Kinder fordern mich, die Seele strampelt mit ihren Beinen in der Luft, mein Panzer wackelt. Hilflosigkeit. Erbarmungslos. Unsere Bilder begegnen uns ständig überall, doch will ich sie wirklich sehen? Und auch noch beschreiben?
Donnerstag, 04.09.2019, 23.15 Uhr, am Tresen in der Küche zwischen klebrigen Marmeladengläsern und dem Wunsch nach einem Bett
Schreiben im Alltag, wie machen das andere? Thomas Mann schrieb morgens, an seinem Schreibtisch, verbat sich jede Störung, mir gelingt das nicht. Schließlich muss ich meinen Job, die vier Kinder und nicht zuletzt Goethe und Schiller unter einen Hut bringen. Da bleibt für die Buchstaben oft nur die nachtschlafende Zeit zwischen klebrigen Marmeladengläsern und Müdigkeit. Ich denke an den neuesten Schreibimpuls von Silke Heimes und gebe mich ihm hin. Das Unbekannte wagen, tu ich das nicht mit jedem neuen Satz, von dem ich nicht weiß, wie er enden wird?
Freitag, 05.09.2019, 09.15 Uhr, am Schreibtisch
Goethe hat sich heute früh auf der Terrasse ein Blickduell mit einer seltenen Kreuzkröte geliefert. Die beiden glotzten sich stumm an, irgendwann gab die Kröte auf, sprang ins Gebüsch und ich dachte über einen Romantitel nach „Das Blickduell“. Kommen so die Geschichten in die Welt? Ich muss dringend mal S. befragen, was sie davon hält.
Freitag, 05.09. 2019, 11.00 Uhr, zurück am Schreibtisch
So wird das nichts. Das Auto musste um 09.55 Uhr in die Inspektion, ich kann niemals am Stück schreiben – immer nur Fragmente. Auf dem Weg zur Werkstatt habe ich einen Mann beobachtet, der am Straßenrand auf einem Gartenstuhl saß und unverwandt gen Osten starrte. In der Hand hielt er eine graue Tasse, auf dem Kopf trug er einen dieser Hüte mit kleinem Schirm in Rot, die ich aus dem Fußballstadium kenne. Warten auf Godot – ob er heute Abend noch immer dort sitzen wird?
Sonntag, 15.09.2019, 15.20 Uhr an meinem Schreibtisch – die Sonne kitzelt meine Nasenspitze, ich könnte mir einbilden, es sei noch Sommer, wenn ich wollte…
Griseldis, meine Älteste, klappert in der Küche mit dem Geschirr herum, ab und zu höre ich ihr Lachen, sie hat Spaß beim Waffelbacken mit ihrer Freundin. Ich freue mich, wenn sie noch wie ein Kind ganz in den Moment eintauchen kann. Ihr Lachen klopft an meine Wehmut und die Buchstaben auf dem Bildschirm geraten durcheinander. Meine Gedanken hauen ab für heute und was zurückbleibt ist Buchstabensalat…wieder einmal.
2 Kommentare
Liebe Mia, liebe Buchstabenfreundin,
auch, wenn manches manchmal durcheinanderpurzelt, so findet sich doch der Sinn in den Buchstaben immer neu – wie ein kelines Wnuder…. Man hat ja herausgefunden, dass wir Worte auch dann verstehen, wenn nur der erste und der letzte Buchstabe des Wortes bestehen bleiben …. ist das nicht sneastoinell?
Alles Liebe
Hedda
Liebe Hedda,
das ist mein Lieblingssatz: *Ihr Lachen klopft an meine Wehmut und die Buchstaben auf dem Bildschirm geraten durcheinander.*
Lass sie ruhig durcheinandergeraten, deine Buchstaben, dann stehen sie auf jeden Fall schon einmal als Buchstabensalat da und du kannst sie ganz in Ruhe sortieren, mit oder ohne Wehmut und mit oder ohne Lachen oder mit einer Prise von allem, was gerade da ist,
herzliche Buchstabengrüße,
Mia