Clever, verspielt und extrem witzig
Clever, verspielt und extrem witzig – diese vier Worte prangten seit heute verführerisch auf dem Deckblatt ihres Anschreibens. Sie musste einfach etwas ändern, denn sie hatte ihn satt – diesen täglichen Gang durch das muffige Treppenhaus mit den Stockflecken an der Wand hinunter bis zu ihrem Briefkasten, dem zweiten von oben in der äußersten linken Reihe. Jeden Tag um 11.20 Uhr stieg sie genau fünfundvierzig Treppenstufen hinab mit beklommenem Herzen und einer Hoffnung in der Hand, mit der sie die verbeulte Metalltür des Briefkasten öffnete. Der Postbote kam um 11.00 Uhr – sie hatte ihn ein paar Mal unten abgepasst, deshalb wusste sie das so genau – aber sie brauchte diese zwanzig Minuten Karenzzeit, diese zwanzig Minuten, in denen sie sich einbilden konnte, dass genau jetzt ihr Leben eine entscheidende Wendung nehmen würde. Wenn sie diese Zeit verkürzte, würde sie endgültig in das schwarze Loch fallen, das sich wie ein riesiges Fischmaul Abend für Abend zuverlässig vor ihr auftat. Zwanzig Minuten Hoffnung – das ist nicht zu viel verlangt, dachte sie, auch nicht für mich.
Zehn Jahre lang hatte sie an ihrem Roman geschrieben, eigentlich lebte sie mit ihm seit Cedric sich vor fünfzehn Jahren für ein Leben ohne sie entschieden hatte. Seitdem lebten sie und der Roman im Großen und Ganzen in harmonischer Beziehung. Mehr oder minder. Natürlich gab es wie in jeder Beziehung Streit, sie rangen mit sich und dem anderen, konnten sich nicht entscheiden, ob und welchen Weg sie als Nächstes gemeinsam einschlagen wollten, versöhnten sich dann aber wieder leidenschaftlich und hingebungsvoll, voller Vertrauen auf das, was geschieht. Er beanspruchte nicht viel Platz in ihrem Ein-Raum- Appartement, verbrauchte kaum Strom, verursachte keinen nennenswerten Schmutz und aß, wenn überhaupt, nur Buchstaben. Ein angenehmer Weggenosse, wie sie fand.
Vor zwei Monaten entschied sie, es ist Zeit, dass du in die Welt ziehst. Sie verbrachten eine letzte innige Nacht miteinander, dann legte sie ihn liebevoll in einen großen Karton, umwickelte das Ganze mit weißem Papier und schickte ihn in die weite Welt der Verlage. Und hoffte. Auf ein Wunder. Täglich wiederholte sie dieses Abschiedsritual, schrieb jedes Mal die Adresse eines anderen Verlages auf das Papier, ging um 9.00 Uhr zum Postamt drei Blocks weiter, strich ein- oder zweimal über den Karton als letzten Gruß und ließ ihn los.
Seitdem wartete sie auf Post. Aus der großen, undurchsichtigen Welt der Verlage, darauf, dass ihr jemand die Liebe gestehen würde zu ihrem Roman, mit dem sie so lange und so intensiv zusammengelebt hatte. Doch es war, als hätte er sich still und heimlich aus ihrem Leben gestohlen. Ein bisschen so wie Cedric damals. Sie hatte sich wenigstens in seinen neuen Freund verliebt, was zahlreiche Komplikationen nach sich zog, eine menage á trois der besonderen Güte, doch für ihren Roman schien keiner zu entflammen. Die Welt der Verlage nahm ihn noch nicht einmal wahr. Antwortete nicht. Und so hörte sie nichts mehr von ihrem perfekten Wortgefährten, der in ihren Augen vor allem eins war: clever, witzig und extrem verspielt.
5 Kommentare
Liebe Hedda,
oh ja, dieses Warten kenne ich auch, nicht auf die reale Post, sondern die digitale. Birte und ich haben das Exposé unseres Normandie-Romans einem Agenten angeboten. Der hatte erklärt, er würde sich per mail melden, wenn er ihn nehmen würde. Wenn wir nach spätestens vier Wochen nichts hören würden, dann……. Ja dann wurde das Exposé wohl vom Fischmaul der Hoffnung verschlungen. Dafür teilen Babette und Jean-Luc und die anderen Mitglieder der Familie Segon nach wie vor mit uns unser Leben und das ist auch nett.
Liebe Grüße
Anne
Liebe Hedda,
Zwanzig Minuten Hoffnung
Fischmaul schmeckt Briefe ab
Buchstaben sind gute Mitbewohner
ménage à trois ménage à deux
perfekter Wortgefährte
ohne Antwort extrem
undurchsichtig
Vielen Dank für deinen inspirierenden Text.
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Ulrike,
Fischmaul und Hoffnung vertragen sich nicht ganz, deswegen ist´s so undurchsichtig ohne Antwort. Vielen Dank, dass du entlang meiner Worte spazieren gehst.
alles Liebe
Hedda
Liebe Hedda,
der
Roman geliebter
Freund und Weggefährte
Leben und so viel Leben
Zeilengeschenk
die Welt
dahinter und
zwischen den Zeilen
immer wieder neu verlieben
Punkt
über
den hinaus
Fall auf die
nächste Zeile zurück zum
Anfang
Liebe Grüße,
Mia
Liebe Mia,
das finde ich sehr treffend formuliert! Ich wünsche dir viel Glück beim Einreichen deines Romanes und schicke dir
Buchstabengrüße an einem trübentümpeligen Tag!
Hedda