Demut vor dem Wort
14.05.2017 Auf dem Weltkongress für Ganzheitsmedizin in München
Es ist Frühstückspause und ich sitze am Stand von Tulukkap Anersaava, dem Geist des Raben. Peter Strauss, der mir diesen Sitzplatz geschenkt hat, verwandelt und verdichtet Fundstücke aus der Natur in trag- und spürbare Medizin, ästhetisch ansprechend und sehr wirkungsvoll. Gestern habe ich mich in eine Schwarzbärenklaue an seinem Stand verliebt, aufgebaut mit einem Bisonknochen und abgerundet von einem Türkis – als Kette. Krafttierelemente im direkten Körperkontakt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mein früherer Chef uns erzählte, man solle MS Patienten auf einem Hirschfell betten, das sei hoch wirksam. Und obwohl ich die Skepsis bezüglich alter Heilmethoden kenne, frage ich mich, warum denn nicht? Warum sollen denn Pflanzen, Steine, Tierkrallen, Felle nicht Informationen enthalten, die uns heilen können? Jahrtausendalte Beobachtungen von Medizinmännern können sich doch nicht getäuscht haben und nur, weil wir die Wirkung nicht mess- und reproduzierbar abbilden können, heißt das nicht, dass sie nicht vorhanden ist.
Begonnen hat diese Veranstaltung mit einem Konzert der Gruppe „Faun“ am Abend vor drei Tagen. Nebelschwaden zogen über die dunkle Bühne, ein Horn ertönte, ich musste an eine Inszenierung von „Die Meistersinger“ von Wagner denken. Die sich anschließende keltisch-irisch anmutende Musik, gespielt auf alten Instrumenten, versetzte mich sofort in die Welt der Märchen und Mythen – eine perfekte Einstimmung auf den Kongress. Der norwegische Gastgeiger bat uns an die verzauberte Atmosphäre einer Mittsommernacht in einem norwegischen Fjord zu denken, wo er in einer Holzhütte erstmalig dem Leadsänger der Band begegnet war – in einer Nacht, die taghell ist, von einem Licht erfüllt, das im Winter rasch hinter dem Horizont versinkt. „Lauf nicht davon, ich kann den Morgen sehen!“
Zurück zur Frühstückspause. Im Hintergrund herrscht buntes Treiben, ich höre Trommeln, Rasseln, ein Sprachengewirr und jede Menge Gesprächsfetzen zu Themen rund um Heilung. An Ständen hängen Federn mit Holzgriffen kunstvoll verbunden, Steine liegen aus, es gibt Didgeridoos aus heimischen Hölzern, Rauchwerk, Schmuck, Seelenmusik, jede Menge Literatur zum Thema Schamanismus und Seelenarbeiter*innen satt. Auf diesem Kongress geht es um die Verbindung alter Heilweisen mit der modernen Medizin. Es darf nicht aussterben, das alte Wissen, das ist mir ein großes Bedürfnis, so nehme ich die Informationen aus Vorträgen und Workshops mit jeder Zelle in mir auf.
Schamanen aus aller Welt sind angereist, geprüft von Ethnologen, ob sie aus entsprechenden Heilerfamilien stammen. Wer die Veranlagung zum Schamanen hat, wird häufig in der jeweiligen Tradition ausgebildet, oft jahrzehntelang – Schamane sein ist Ruf und Bestimmung zugleich. Hier treffen sie auf Mediziner, psychologische Psychotherapeuten und Interessierte jeden Berufsstandes, um in den Dialog zu treten und eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Ewigkeit zu bilden.
Sie sind demütig, das zeichnet diese weisen Menschen aus. Demütig und dankbar, mit der Natur verwoben und dem Universum, das uns umgibt. Ihre Verbindung zwischen Vater Himmel und Mutter Erde ist deutlich spürbar, sich genau dieser Verbindung bewusst zu werden, das täte der Schulmedizin auch gut.
Schamanen achten das Wort. Sie wissen, dass Worte wie Messer wirken können. Alte Glaubenssätze, Verfluchungen, unbedacht dahin geworfene Sätze, Schuldzuweisungen können sich für immer in unsere Seelen schneiden und eine freie Entwicklung verhindern, noch über viele Generationen hinweg, wie wir heute wissen. Diese Erkenntnis, die ich mir als Schreibende und Sprechende nicht oft genug vor Augen führen kann, lässt mich am heutigen #Schreibort demütig vor dem Wort werden. Schreiben bedeutet Achtsamkeit, bedeutet, Entscheidungen zu treffen, die weitreichende Konsequenzen haben können für den, der diese Worte liest und auch für den, der diese Worte verfasst. Schreiben ist lebensgefährlich hat Marguerite Duras einmal gesagt und sie hat recht.
Auf einmal hält mein Stift inne. Mir wird klar, dass es in der alten Kongresshalle in München im Wesentlichen um das Unwortbare geht, um feine Energien, die nicht verbalisiert werden müssen, sondern gespürt werden wollen. Und wieder fällt mir an dieser Stelle Rilke ein:
„Vor lauter Lauschen und Staunen sei still, du mein tieftiefes Leben“
Anmerkung: Das obige Beitragsbild zeigt die Schädelplatte eines Moschusochsen, von Peter Strauss bearbeitet
9 Kommentare
Liebe Hedda,
Ich notorischer Skeptiker staune immer über Menschen, die sich in obigen Sphären bewegen und bewundere auch, auf welchem Energielevel sie sich bewegen.
Dann wieder verweben sich die Sphären, ich lese das schöne Zitat von Rilke und sage: Das unterschreibe ich sofort (und notiere es für ein andermal).
Das Staunen bringt unsere Blogs wieder mal ganz nah zueinander. Schön!
Liebe Grüße, Urs
Liebe Hedda,
vielen Dank für diesen Ausflug in die Welt der Naturmedizin und der Schamane. Ich bewundere Menschen, die in solcher Weise mit der Natur und einer uralten Weisheit in Verbindung stehen. Ich selbst bin durch meine kulturelle Erziehung und Ausbildung stark durch dieses wissenschaftliche Denken geprägt. Alle Vorgänge, wie zum Beispiel Heilung, müssten doch messbar und nachweisbar sein.
Aber es gibt Erscheinungen und Erfahrungen, die eine andere Sprache sprechen. Und da komme ich nun auch zum „Wort“. Ich kann dir nur zustimmen, wie einschneidend Worte sein können. Worte sind ein zweischneidiges Schwert und man muss sie sorgsam einsetzen.
Umso schöner, dass du die Aufmerksamkeit auch auf das „Unwortbare“ lenkst.
Das Gedicht von Rilke ist ganz wunderbar! Das passt auch sehr gut zu meinen Eindrücken kürzlich im Aquarium.
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Ulrike,
ich habe große Lust, mit dir weiter auf Schreibortreise zu gehen, ob in Berlin oder anderswo – das wollte ich dir an der Stelle mal zurufen …
Ansonsten danke ich dir für deine Rückmeldung, kann verstehen, wie schwer es ist, „nicht wissenschaftliches “ zu akzeptieren, doch in meiner langjährigen Beobachtung und Begeitung von Menschen findet genau das Unmessbare mehr und mehr seinen Platz. ( immer im Hinterkopf habend, dass ich gespannt bin, wann es dafür Nachweise geben wird) Wie lange haben wir geglaubt, dass die Erde eine Scheibe sei bis wir eines besseren belehrt wurden.
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
in deinem Schreiben spüre ich die große Demut und Dankbarkeit, bei solch einem bewegenden, lehr- und heilsamen Ereignis dabei sein zu dürfen. Wie wunderbar, dass im Sinne der Heilung so viele unterschiedliche ihrer Fürsprecher an einem Ort zusammenkommen können, um von einander zu lernen, um sich auszutauschen.
Gerade muss ich schmunzeln, weil mich der unwillkürlich der Gedanke packt, dass das Wort „austauschen“ nicht nur meint, mit jemandem etwas zu tauschen, sondern dass man sich im Austausch miteinander ja auch gegen ein vielleicht klügeres Selbst austauscht…
Ach ja, Worte sind Zauber, sind quasi Magie und können wie diese zum Guten und Schlechten verwendet werden… Deine Worte jedenfalls waren anregend und bewegend… insbesondere Dein Gedicht in der Antwort an die Kuechenmarie, das hat mir sogar eine Gänsehaut beschert. 🙂
lg. mo…
Liebe Mo,
ich freue mich immer an deinen Kommentaren. Manchmal habe ich fast das Gefühl, als würdest du mit mir gemeinsam die Schreiborte besuchen.
Die Idee, dass wir uns austauschen im wörtlichen Sinne finde ich bestechend. Wobei es weniger ein austauschen als ein hineintasten und – tauschen ist … Verloren geht sowieso auf dieser Welt nichts, das steht für mich fest.
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
ist es ein wie auch immer geartetes Zeichen, dass mein sorgsam ausgesuchter Wortbeitrag, bei dem ich lange nach den adequaten Worten gesucht habe, nicht mehr aufzufinden ist, weil meine Aufmerksamkeit doch wieder abgelenkt wurde?
Und wie sehr gefällt mir gerade jetzt durch diese Erfahrung die Demut vor dem Wort, geschrieben, gesprochen oder gar gedacht, die Welt hinter den Zeilen, die wir schreiben, die Welt hinter den Dingen, die wir sehen und die Welt hinter den Augen der Menschen, die wir spüren … Mit Rilkes Worten Worte zu finden, ist mir bedeutsam, weil ich seine Worte als sehr sorgsam ausgewählt erlebe: „Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben.“
Werde ich heute Abend, still sein, und lasse den Tag in der Nacht still werden,
danke,
Sabine
Liebe #nachtschreiberin,
ja, ich finde, dass in Rilkes zwei Zeilen alles steckt, was ich in diesem Beitrag versucht habe auszudrücken. Und das ist für mich die hohe Kunst des Wortes – vielleicht wirklich zu sitzen, still zu sein, zu warten bis sich das eine Wort zeigt, das aus der tiefsten Tiefe unseres Seins entspringt. Ich danke dir für deine wertvollen Gedankenanstöße.
Alles Liebe
Hedda
Liebe Anne,
vielen Dank für deine Worte und Gedanken. Was mich am meisten beeindruckt hat bei der Podiumsdiskussion war, dass einige Schamanen unsere Art der Fragen nicht verstanden haben. Ihr Denken ist durch ihre Anbindung an das Universum und die Spiritualität ein ganz anderes. Wir Mitglieder der modernen Gesellschaften haben schon so viel verlernt in einer doch recht kurzen Zeit. Wir leben nicht mehr nach den Rhythmen des Lichtes, uns fehlt vielfach die Verbundenheit mit der Natur, wir stopfen Plastiknahrung in uns rein und wir vergessen auch die Demut unserem Körper gegenüber. Ich habe zu dem Thema mal ein Gedicht geschrieben…
Beloved brain
In meinem Kopf – längst abgelegt –
schwirren noch die Gedanken
zwischen Amygdala und Cortex
hin und her –
auf der Suche nach einer Heimat.
All die Geschichten
des Tages,
das gefühlte On-Off,
zwischen : bleib doch
und ich schmeiß euch raus.
Von dir bewegt, sortiert,
zellenklein bearbeitet,
durchgereicht
an einen Ort,
der dir genehm ist.
Du mein Hirn,
dir bin ich
eine Liebeserklärung
dringend schuldig!
(h.lenz)
In diesem Sinne grüße ich dich nachdenklich
Hedda
Liebe Hedda,
mit Neugier habe ich Deinen Beitrag gelesen. Von meinem als Schulmediziner ausgebildeten Doktorbruder habe ich Skepsis gegenüber den sogenannten alternativen Heilmethoden eingebläutt bekommen, liebäugel aber doch immer wieder mit ihnen und fühle mich auch von ihnen magisch angezogen. Ich denke, es ist noch einmal eine ganz besondere Atmosphäre inmitten dieser weisen Menschen zu schreiben. Und dabei auch dem Wort mit der ihm gebührenden Achtsamkeit zu begeben. Das glaube ich wohl, dass Worte wie Messer sein können. Und manchmal ist es sicher auch gut miteinander zu schweigen und die Energien zwischen sich und dem anderen wahrzunehmen.
Abendliche Grüße von Anne