Der Tag, an dem das Ä auf dem Kopf stand
„Heute schon die Welt verändert?“ Sorgfältig übertrug Orell Buchstabe für Buchstabe in sein Tagebuch und gab sich besonders viel Mühe beim umgedrehten Ä. Er war sehr stolz auf seinen Einfall, den Umlaut einfach auf den Kopf zu stellen in der Hoffnung, dass sich dadurch sein Leben auch auf den Kopf stellen würde. Seit er an den verdammten Rollstuhl gekettet war, wünschte er sich nichts mehr als das.
Plötzlich klingelte es an der Tür und Orell schreckte hoch. Ein Blick auf seine Taschenuhr – ein Erbstück seines Onkels Aurel, nach dem sie ihn benannt hatten – verriet ihm, dass die Pflegerin frühestens in einer halben Stunde kommen würde. Verärgert über die Störung rollte er langsam zum Eingang, hob den Hörer der Gegensprechanlage ab und brummelte: „Ja, bitte?“ „DHL, ich habe ein Paket für Sie!“ „Ich habe nichts bestellt!“ „Aber, Sie sind doch Herr Orell Liebenstein, oder?“ „Ja, der bin ich!“ „Dann öffnen Sie doch bitte die Tür!“
Orell zögerte. Man konnte nie wissen, welche Gefahren vor einer Tür lauerten, das hatten sie ihm beigebracht. Als er auf die Klinke drückte und sich die Tür einen Spalt öffnete, bluffte ihn der junge Mann an: „Na, endlich, das hat aber gedauert, ich dachte, Sie kommen gar nicht mehr!“ Orell nahm das Paket in Empfang und unterschrieb auf dem Display des mobilen Empfangsgerätes mit den Worten „Ordnungsamt“. Er gab nicht gerne seine Identität preis und den Zusteller interessierte es ohnehin nicht, was er dorthin kritzelte.
Wieder zurück an seinem Schreibtisch las er erstaunt den Namen des Absenders: Amalie, – etwa die Amalie? Konnte das möglich sein? Was wollte denn seine erste große Liebe von ihm? Sie hatte ihn damals betrogen, er hatte es herausgefunden und sofort mit ihr gebrochen. Orell mochte keine Betrüger. Noch nie. Auch oder gerade nicht, wenn sie weiblicher Natur waren.
Trotzdem öffnete er neugierig das Paket. Unter Bergen von Zeitungspapier fand er schließlich eine kleine Notiz, unbeholfen auf den kümmerlichen Überresten eines Einkaufsbons gekrakelt. Orell, wenn du das ließt, bin ich lengst tod. Guck nicht so grimmich! Es ist wie es ist… Und du alter Stuhrkopf, ich habe dich geliebt, biss zuletzt… Immer deine Amalie.!!
Hätte ich bloß nicht das Ä auf den Kopf gestellt, dachte Orell und wischte sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel.
4 Kommentare
Oh, liebe Hedda, wie schön, wie traurig, das ging so richtig tief ins Herz! Ein Kleinod, winzig, zärtlich, ich liebe es sehr!
Liebe Grüße
Mo…
Liebe Hedda,
es gibt Tage, da scheint sich die Welt auf den Kopf gestellt zu haben, während man nachts geschlafen hat. Schon das Aufstehen fühlt sich schräg an und es läuft einfach nur alles schief. Wenn man dann einen Kopfstand machen könnte, dann wäre alles wieder richtig rum, aber was macht man mit einem solchen „gebrauchten“ Tag, wenn man sich nicht auf den Kopf stellen mag oder kann. Orells (schon wieder so ein besonderer Name) Idee einen Buchstaben auf den Kopf zu stellen wäre eine Alternative. Aber gerade das Ö?? Das heult doch nur rum und lässt tausend Tropfen fallen. Wie wäre es denn mal mit dem W, das kriegt endlich einen festen Stand und wird zum M. Ich glaub das mach ich mal für heute. So eine Satz ergibt mehr Sinn als „das wach ich wal für heute“.
Liebe Grüße
Anne
Liebe Hedda,
was für eine wunderschöne Idee, die Welt auf den Kopf zu stellen wenn wir uns einen Buchstaben aussuchen und ihn herumdrehen. Ich drehe heute mal das Ö herum.
Mal schauen, was dann passiert,
liebe Grüße,
Sabine
Liebe Hedda,
Deine Phantasie möchte ich haben! Toll, was du aus den Worten herausholen kannst.
Die Geschichte berührt mich sehr und ist leider schon zuende.
Liebe Grüße
Ursel