Blogparade: Eindeutig-uneindeutig
Liebe Blogleser*innen,
Da die Jahrestagung des Segeberger Kreis – Gesellschaft für Kreatives Schreiben zum Thema „Haltungen schreibend erfahren“ abgesagt werden musste, hat mein Kommilitone Urs seinen Schreibgruppenvorschlag „eindeutig-uneindeutig: Ambivalenz schreiben“ als Thema für eine Bloparade vorgeschlagen. Sie endet am 31.3.2020.
Jede(r) ist eingeladen, bei diesem Thema mitzumachen und seinen/ihren Text auf der eigenen Homepage hochzuladen, diesen mit der Seite von Urs zu verlinken und bei Urs in den Kommentaren einen link zu diesem Beitrag zu hinterlassen.Viel Spaß beim eindeutigen-uneindeutigen Schreiben….
Die Welt atmet
Die Welt atmet auf. Umwelt-Zungen haben begonnen zu sprechen. Krächzend erst, dann lauter und lauter. Drängend. Jetzt ist es still. Ich lehne mich zurück und schließe meine Augen. Lausche meinem Atem, versuche ihm zu folgen, verliere ihn mitten auf dem Weg. Warum kann ich nicht bleiben?
Leichen – Last – Wagen tauchen auf aus dem Nichts. Sie transportieren die Toten in Tempo 30 durch die Straßen Oberitaliens. Ich reiße die Augen auf, stelle die Wimpern hoch, halte die Stille nicht aus. Die Stille der Toten, ich habe beides nicht bestellt, weder die Stille noch die Toten. Sie verselbstständigen sich, die leeren Gesichter, ihre starren Blicke, die kalten Körper säumen die Straßen, verwandeln sich in Trecks mit Geflüchteten, die sich aneinanderklammern, vor dem Fallen schützen. Die Halbschwachen werden zu Starken und wer nicht mehr kann, bleibt liegen. Weiter geht’s, die Gefahr lauert hinter uns, wir können nicht warten, weiter geht’s, weiter…
Die Welt atmet auf. Ich lehne mich zurück und wage es erneut. Doch der Preis für die Stille ist der Lärm. In mir. Posaunen schreien, schräg der Klang einer Trompete, die zu retten hilft, selbst die zarte Harfe haut daneben. Ich gebe auf, suche einen Gegen-Satz, hektisch scharre ich in der Sandkuhle meiner Erinnerungen, aber der Satz hält sich bedeckt. Am Hosenbein lungert ein Hund, geflohen aus dem verfallenen grünen Haus am Ende der Straße. Am Hosenbein hungert ein Hund. Ich kann ihm nicht helfen, die Geschäfte haben geschlossen. Es ist still. Die Welt atmet auf. Ich kann es nicht fassen.
6 Kommentare
Liebe Hedda,
die schöne äußere Stille ist zugleich auch Totenstille. „Am Hosenbein hungert ein Hund“ – das bringt für mich die Anflüge von Hilflosigkeit und Ohnmacht, die man in diesen Corona-Zeiten spürt, gut auf den Punkt. Danke für diese höchst ambivalenten Text.
Herzliche (immer noch optimistische) Grüße
Ulrike
Sehr gerne, liebe Ulrike, diese Zeiten sind für uns Schreibende lähmend und inspirierend zugleich, wie ich finde…
Ich freue mich über deinen Besuch hier und grüße dich herzlich!!
Hedda
Liebe Hedda,
dein Text ist bedrückend und existentiell auf ganz vielen verschiedenen Ebenen. Er ist intensiv dicht, auch gruselig. Beim Lesen habe ich eine Gänsehaut bekommen UND ja, ich finde ihn einfach verdammt stark und gerade jetzt enorm wichtig, dass unsere Ängste eine Form bekommen, die uns für den Moment erleichtert.
Und ja, trotz oder gerade aller Brutalität und Verzweiflung mag ich den Text sehr. Er berührt mich zutiefst und ich glaube, es braucht solche Texte, die durch die Stille entstehen, die wir überall erleben, wenn die gewohnten Geräusche zunehmend weniger werden.
Eine herzliche Wortumarmung von mir,
Sabine
Liebe Sabine,
vielen Dank für dein Feedback. Das Grauen gehört auf einmal zum Alltag und hinter der Stille lauert eine beklemmende Bedrohung, so jedenfalls empfinde ich die aktuelle Lage der allgemeinen Verunsicherung und Not. Schreiben hilft da, wie immer, zu klären und dem Diffusen eine Kontur zu geben.
Eine Wortumarmung zurück!
hedda
Liebe Anne,
vielen Dank für deine Worte. Diese Stille fasziniert mich, denn in ihr steckt etwas Bedrohliches, Ungewisses, ja, vielleicht ist es genau das. Wir Menschen, die wir stets denken, wir hätten die Kontrolle über alle Lebensprozesse, schaudern auf einmal, da wir nicht wissen, was das Morgen bringt. Eine existentielle Erfahrung, wie ich finde.
Schön, dass ich sie mit dir teilen darf.
alles Liebe
Hedda
Liebe Hedda,
es ist eines der Bilder, das sich aus diesen Tagen der sich überschlagenden und übertrumpfenden medialen Coronaberichterstattung in mein Gedächtnis eingegraben hat. Dieser Leichenlastwagenzug in Italien, der so gemächlich dahin rollt. Welch ein Preis für den Stillstand der Welt, der da gezahlt wird. Ein Stillstand, den man vor vier Wochen nicht für möglich hielt. Und nun geht es auf einmal, der Schalter ist von jetzt auf gleich umgelegt. Stille senkt sich über die Welt und hallt laut in den Augen und Ohren des Einzelnen nach. Offensichtlich braucht es diese Erschütterungen, um vielleicht einen Kurswechsel hinzubekommen.
Danke für diesen berührend.gruseligen Text.
Liebe Grüße
Anne