Juli und der Himmel
Juli erblickte am 10. Juni 1969 um 4.10 Uhr in Greifswald das Licht der Welt. Sie war ein Sternenguckerkind, eine sogenannte hintere Hinterhauptslage wie die Frauenärzte sagen und als Sternenguckerkind kommt man nicht ganz so leicht auf die Welt wie all die anderen Kinder, die auf den Boden gucken und nicht in die Luft.
Sterne sah Juli keine – stattdessen blickte sie in das grelle Licht einer Neonlampe in einem blassblau gekachelten Kreißsaal und keiner weiß, was sie in diesem Moment dachte, als sie den Mutterleib verließ. Auch sie selbst nicht. Sie soll geschrien haben wie am Spieß, unaufhörlich, keiner konnte sie beruhigen und im Nachhinein denke ich, wer weiß, vielleicht war sie wütend, weil sie nicht das Sternbild des großen Bären erblickte, sondern nur dieses kalte Neonlicht. Vielleicht war sie auch enttäuscht, verzweifelt, wollte nicht in einer Welt angekommen, die aus blassblauen Kacheln besteht, deren Fugen vor lauter Scheuern mit Desinfektionsmittel schon brüchig geworden waren. Juli war da sehr eigen und vorstellbar wäre das schon.
Heute ist Juli 47 Jahre alt und das Sternegucken hat sie sich abgewöhnt. Noch als Kind liebte sie alles, was mit dem Thema Himmel zu tun hatte. Stundenlang hörte sie „Peterchens Mondfahrt“ und wartete Abend für Abend darauf, dass das Tau-Mariechen, die Tochter der Nachtfee, in den frühen Morgenstunden bei ihr vorbeikommen möge. Doch sie kam nicht. Stattdessen schrie ihre Mutter: „Aufstehen, Juli, die Hühner brauchen ihr Futter!“ Oder sie spielte heimlich unter der Bettdecke nachts auf ihrer kleinen Mundharmonika, die ihr der Großvater geschenkt hatte, Lieder wie „Der Mond ist aufgegangen!“. Juli ist nämlich musikalisch.
Auch das hat sie sich abgewöhnt, sofern man sich ein Talent überhaupt abgewöhnen kann. Vielleicht kann man es zuschütten, so wie Kiesgruben manchmal zugeschüttet werden, aber ist dann der See wirklich für immer verschwunden? Könnte man ihn nicht wieder freibaggern?
Heute sitzt Juli still in einer Ecke und möchte von niemandem gestört werden. Sie sitzt dort schon einige Stunden lang, das grelle Licht der Neonröhren ist irgendwann gegen Stromsparlampen ausgetauscht worden und irgendwo am Ende des Flures klappern die Schwestern mit dem Geschirr. Es ist Abendbrotzeit, ob das Tau-Mariechen wohl morgen früh endlich kommt?
4 Kommentare
Liebe Hedda,
welch eine berührend, traurige Geschichte, wenn man den Nachthimmel vor lauter Licht nicht sehen kann und auch kein Tau-Mariechen vorbei kommt, um einen zu retten. Der Talentsee ist zugeschüttet. Und eine Klinik ist wahrlich kein Ort, um ihn wieder freizulegen. Aber wo wäre der Ort und wo wäre der Mensch, der hilft, das Talent wieder zu entdecken?
Liebe Grüße
Anne
Liebe Anne,
an deine Fragen könnte ich gleich anknüpfen und weiterschreiben… Juli und ihre Talente, Juli und ihre Erlebnisse…
Ich danke dir für diese Impulse!
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
DAS ist meine bisherige Lieblingsgeschichte deiner neuen Geschichten … Du kannst es einfach, so wunderbar erzählen, dass ich sie sehe und, dass ich mir alles vorstellen kann; das Ende nicht, das ist überraschend und vor allen Dingen gut.
Die Geschichten solltest du sammeln oder einer einzelnen Figur ein ganzes Buch schreiben,
liebe Grüße,
Mia
Liebe Mia,
das ist auch meine bisherige Lieblingsgeschichte. Es ist, als würde ich mich von Woche zu Woche mehr einschreiben und dafür ist das Bloggen wirklich toll – um sich immer wieder neue Geschichten auszudenken und dranzubleiben.
Herzliche Ostergrüße
Hedda