Perle im Alltag
Im Friseursalon Ulrich Remus in Koblenz
Ich bin irritiert. Normalerweise läuft in diesem Frisiersalon klassische Musik, heute jedoch kommt mir Musik aus den 40er und 50er Jahren entgegen. Verblüfft merke ich, dass ich mich erst auf die neue Atmosphäre einschwingen muss – das hätte ich nicht erwartet.
Dieser Raum zählt zu meinen liebsten Schreiborten. Natürlich gibt es unendlich viele #Schreibplätze auf der Welt, überall, wo ich mich hinsetzen kann, kann ich auch schreiben. Doch ein mir vertrauter Ort bietet Schutz. Das Vertrauen, das dadurch entsteht, verleiht dem Wort Freiheit und die ist für mich kostbar. Deshalb liebe ich diesen Salon.
Da ich regelmäßig zum Friseur gehe und die Restaurationszeiten meines Äußeren proportional zu meinem Alter wachsen, nutze ich gerne die Zeit hier zum Verfassen kleinerer Skizzen, Fragmente und manchmal auch Gedichte oder was mir sonst so in den Sinn kommt.
Heute sitze ich dafür an einem Platz vor bodentiefen Fenstern – mit Aussicht auf einen historischen Innenhof der Koblenzer Altstadt. Rote Rosen ranken fast ein bisschen sehnsüchtig am Abflussrohr des Hauses gegenüber in die Höhe und verleihen dem sonst so trüben Tag Ausdruck. Mein Blick fällt auf eine alte Laterne, verbunden mit der Musik aus den 40er Jahren und dem Timbre der etwas schmalzig klingenden Stimme fühle ich mich in eine andere Zeit versetzt. Für einen kurzen Moment ertappe ich mich dabei, wie ich nach einem #Grammophon Ausschau halte und dem kratzenden Dreh einer Schellackplatte.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da hatte ich das Schreiben vergessen. Damals quälte ich mich eher durch lärmende Haarsalons mit Mainstream-Musik, TV- Bildschirm und einem oft unerträglichen Dunst aus fein vernebeltem Haarspray, verbunden mit Klatsch und Tratsch. Damals war es mir nicht wichtig, mir an einem Ort die Haare machen zu lassen, an dem ich auch schreiben kann. Damals eilte ich durch die Welt.
Der heutige Salon scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Er verbindet Tradition mit Moderne, zeigt sich aber unbeeindruckt von der zunehmenden Geschwindigkeit des neuen Jahrtausends. Der Betreiber, Ulrich Remus, ist ein sehr differenzierter, weltoffener, warmherziger Gentleman, im besten und eigentlichen Sinne des Wortes, mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik. Kurz: Der Salon hat Stil. Seit ich ihn entdeckt habe, schreibe ich hier mit wachsender Begeisterung bei jedem Besuch.
Rechts von mir hängt ein großes Bild von einem See mit einem Gehöft und einer kleinen evangelischen Kirche. Es zeigt den Ort Sorkwity (#Sorquitten) in Ostpreußen. Martin Remus, der Vater des Inhabers, hat es gemalt, im Gedenken an seine Wurzeln. Ich liebe dieses Bild, je länger ich es betrachte, desto mehr kehren Ruhe und Frieden in mir ein. In der Ferne meine ich dann, das Klappern von Störchen zu vernehmen und ein einsames Blesshuhn seine Kreise auf dem Wasser ziehen zu sehen. Irgendwann hing an dieser Stelle interimsmäßig ein Bild mit zwei martialisch wirkenden, sehr realistisch abgebildeten Männern – das hat mich ebenso aus meinem Schreibtakt gebracht wie die Änderung der Musikrichtung heute. Manchmal tut es wohl, wenn Dinge so bleiben, auch, wenn ich eine große Freundin von Veränderung bin.
Die ovalen Spiegel der kleinen halbrunden Frisiertische erinnern in ihrer Form an Augen, die wohlwollend auf ihre Kundinnen schauen. Nur das Oberlid fehlt, Zwinkern ist nicht drin. Auf der mit Holz eingefassten Platte gibt es ausreichend Platz für ein kleines ovales Tablett mit einer Tasse Tee und einem Glas Wasser, mein Schreibkästchen und eine Glasvase, in der zwei verschiedenfarbige Rosen schwimmen. Mein Schreibbuch liegt wie so häufig auf meinem Schoß, Heft und Stift sind in diesem Salon aufeinander eingespielt. Ein Laptop wäre hier fehl am Platze.
Dies ist ein Ort der Metamorphose. Wer diesen Raum betritt, möchte sich verwandeln lassen, möchte als Schmetterling wieder hinausfliegen. Hier dürfen sich auch Beobachtungen oder innere Bilder verwandeln in Worte und Worte in andere Worte und Gedanken in Gespräche und Gespräche in Stille und … und …Dort, wo mich das Knistern der Alufolie beim Einpacken von Strähnchen an heimelige Herbstfeuer erinnert, können Geschichten entstehen, lassen sich Silben verdichten und Buchstaben neu sortieren. Aus einem ursprünglichen Durcheinander kann so Klarheit werden. Dieser Schreibort ist einfach eine Perle im Alltag.
8 Kommentare
Liebe Hedda
Ach wie schön nostalgisch mutet dieser Eintrag an. Und Dein Humor ist wieder mal grosse Klasse von wegen Restaurationszeit (den merke ich mir).
Kennst Du den wunderbaren zu Tränen rührenden Film „Le mari de la coiffeuse“? https://www.youtube.com/watch?v=GbSvxAZ4xeQ
Herzlich, Urs
Lieber Urs,
der Mann der Friseuse zählt zu meinen absoluten Lieblingsfilmen, an den ich mindestens einmal bei jedem Friseurbesuch denke.
Herzlichen Dank für das Bemerken des Humors, den ich ja gerne verstecke.
all the best
Hedda
Liebe Hedda,
ich bin richtig eingetaucht in diese Welt mit wohlwollenden Spiegelaugen, dem Aquarell vom Frisörvater mit der beschaulichen Seelandschaft (und Storchklappern in der Fantasie), mit „Volare“ ein Hauch von Italien und dolce vita, gemischt mit dem geheimnisvollen Knistern der Folien, die für eine Metamorphose sorgen – und der Gentleman-Frisör.
Wenn Koblenz nicht so weit wäre, würde ich sofort hingehen. Aber du hast die einzigartige Atmosphäre so dicht beschrieben, dass ich glaube, da gewesen zu sein.
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Hedda,
was für ein sinnlicher Schreibort und welche eine sinnliche Beschreibung dieses Ortes. Ich meine den Duft der Rosen zu riechen, die da vor dir drapiert sind. Es hat alles Stil in diesem Salon und auch Dein Schreibstil ( die IKS mault grade es würde jetzt aber mit diesen Wortspielereien reichen) passt wunderbar dazu. Er hat einfach Klasse. Ich finde es schön für Dich in der doch gerade jetzt so stressigen beruflichen Lage wenigstens hin und wieder solche Oasen der Ruhe zu finden.
Liebe Grüße
Anne
Liebe Hedda,
das ist für mich so ziemlich der ungewöhnlichste Schreibort, den du aufgesucht hast. Friseur kommt bei mir noch vor Zahnarzt, sprich bislang fühlte ich mich in Salons immer sehr unwohl. Obwohl deine Schilderung nach Oase klingt. Vielleicht bin ich immer mit der falschen Einstellung und der falschen Ausrüstung zum Friseur gegangen. Das nächste Mal also mit Kladde, Stift, Muße und Neugier?
Herzliche Grüße, Amy
Liebe Amy,
wie sehr ich das kenne. Friseur kam für mich immer gleich hinter Zahnarzt. Ich fand die Zeit, die ich in den diversen Etablissements verbracht habe, meist überflüssig, von Schmetterling konnte nie die Rede sein und so war ich bekannt dafür, dass ich die Friseurinnen zu Höchstleistungen antreiben konnte, damit ich nur ja 5 min früher gehen konnte.
Bis ich diesen Salon betrat – seitdem freue ich mich auf den Friseurbesuch. Ich gestehe, ich brauchte eine Adaptationsphase, zu ungewohnt war es für mich, mich einfach wohl zu fühlen beim Friseur. Heute lege ich den Termin bewusst so, dass ich nach hinten Luft habe, und entspanne einfach… Beim Zahnarzt ist mir das allerdings noch nie gelungen ….
Beste Grüße und vielen Dank für deinen Kommentar.
Hedda
Liebe Hedda,
was für ein schöner, ruhiger, vertrauter, anderes Schreibort, der, wie schreibst du so treffend, „der aus der Zeit herausgefallen ist“ und dich jedes Mal und mich jetzt beim Lesen mit hinausnimmt, aus der Zeit, für diesen kostbaren LeseMoment, den du uns erschrieben hast … denke gerade an meinen Salon, den ich, nach dieser Lektüre, nicht mehr Salon nennen möchte, da zu schreiben, mache ich, wenn die Ideen mit der Hand aufs Papier müssen, er würde mich aber nicht so einladen, wie dein Salon das tut. Mit so vielen großartigen Kleinigkeiten, die einladen zum Verweilen … und wenn du dann noch als Schmetterling wieder hinausgeflogen kommst, wunderbar, zum SOund der 50er Jahre auf alten Vinyl-Scheiben, ja …
Ich mag deinen feinsinnigen Humor in dem Text, der ihm eine besondere Färbung verleiht und mich beim Lesen schmunzeln lässt,
danke dafür,
Mia
Liebe Mia,
zumindest fühle ich mich wie ein Schmetterlling für eine kurze Zeit, wenn ich dort herausgeflattert kam und ein Teil der Alltagsschwere auf dem Papier zurücklassen konnte. Dafür eignet sich das Schreiben nämlich auch hervorragend.
Vielen Dank für deine Worte, besonders habe ich mich darüber gefreut, dass du meinen Humor entdecken konntest – du weißt ja, ich lache so gerne ..
Liebe Grüße
Hedda