Phebes Welt der Bücher
„Rein ins Buch, raus aus dem Alltag – wer von uns kennt das nicht? Rein in die Buchstaben, raus aus dem Einerlei, rein in die Phantasie, raus aus dem strengen du musst, du sollst, du solltest..“
Als Phebe diese Worte las, fühlte sie sich ertappt. Denn Phebe hatte in der Schublade unter ihrem abgenutzten Schreibtisch immer ein Buch deponiert. Gott sei Dank arbeitete sie noch in einem Einzelbüro, so dass sie jeder Zeit auf die Seiten zugreifen konnte, wenn ihr der Alltag im BAAINB ( Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr) den Hals zuschnürte. Dann öffnete sie die Schublade aus Eichenholz, die leicht klemmte, und begleitete aktuell H.M. Doughty und seinen Butler und Bootsmann auf der Reise von Friesland über die westdeutschen Kanäle, Hamburg und die Elbe, die mecklenburgischen und märkischen Gewässer bis hin nach Böhmen. Sie sprang förmlich in das 19. Jahrhundert und in diese Beschreibung von Doughty, in der sie sich ohnehin wohler fühlte als heute, wo die Reisen virtuell zumindest schnell abzuarbeiten waren und Papua- Neuguinea nur ein Click weit von ihr entfernt lag. Das entsprach nicht ihrem Tempo, Phebe brauchte es gemächlich und betulich, Buchstabe nach Buchstabe – das kam ihrem Naturell näher.
Leider verlor sie sich irgendwo in der Weite der mecklenburgischen Seenplatte und vergaß darüber ihre Aufgaben zu erledigen. Draußen war es längst dunkel geworden, Phebe hatte es nicht bemerkt. Sie war verschwunden in dem Buch, die Silben und ihre Phantasie tanzten einen nicht enden wollenden Pas de deux und sie ließ sich schwebend davontragen. Um 23.11 Uhr – nach dem letzten Satz – verließ sie schließlich leise und unauffällig das Gebäude und bemühte sich dabei, nicht dem Nachtwächter, Herrn Moskewitz, in die Hände zu fallen, denn der würde ihr wieder unangenehme Fragen stellen, die sie par tout nicht beantworten wollte. Herr Moskewitz war dafür bekannt, unangenehme Fragen zu stellen, keiner wusste, warum er sich in der Dunkelheit wie ein großer tropischer Leuchtpilz aufplusterte, aber Gott sei Dank bewachte er ja nur die Nacht und nicht den Tag, so dass man ihm gut entkommen konnte.
Am nächsten Morgen meldete sich Phebe krank. Vor lauter Schaukeln auf dem Boot war ihr übel geworden und die Aussicht, dass sie erneut von ihrem Chef für die ausstehenden Arbeiten gerügt würde, verstärkten diese Übelkeit. So blieb sie unter ihrer grau – weiß karierten Flanell- Bettwäsche liegen, den Spuckeimer hatte sie sicherheitshalber bereits in der Nacht neben das Bett gestellt. Man konnte ja nie wissen…
Als die Kündigung mit der Post eintraf und die Benachrichtigung über das Einschreiben in den Briefkasten plumpste, ließ Phebe gerade ihren Blick über das Bücherregal schweifen und entschied sich spontan für den Gedichtband von Ingeborg Bachmann: „Ich weiß keine bessere Welt.“
2 Kommentare
Liebe Küchenmarie,
vielen Dank für deinen Kommentar. Ja, ich denke ja schon länger darüber nach, die Figuren zu verbinden, aber erst kommt noch die Masterarbeit, dann, ja dann…..
Liebe Grüße von Schreibtisch zu Schreibtisch
Hedda
Liebe Hedda,
ja das kenne ich, in die Welt eines Buches hinab tauchen und die Realität um sich vergessen. Wie glücklich war ich, als mir mein Vater den Weg zur Kiste mit seinen alten Karl-May Büchern auf dem Dachboden wies. Ich verschlang sie, einen Band nach dem anderen. An Wochenenden brachte man mich kaum aus meinem Zimmer. Auch heute bin ich glücklich, wenn ich richtig dicke Schmöker in der Hand habe und freie Zeit vor mir liegt. Und je dünner der verbleibende Rest, den ich noch lesen kann, wird, desto melancholischer werde ich bei der Vorstellung, dass ich diese wunderbare Welt der Buchseiten wieder verlassen muss, dass mich die Realität wieder hat und mich mir neue Lesefluchten suchen muss. Danke für das Wachkitzeln dieser wunderbaren Erinnerungen. Und danke für die aufregende Begegnung mit Herrn Moskewitz, dem tropischen Leuchtpilz. Ich habe mich mit Phebe leise an ihm vorbeigedrückt, nicht ohne ein wenig zu kichern. Vielleicht hören wir ja noch mal von ihm.
Liebe Grüße
Anne