Praxis zu. Und nun?
„Praxis zu. Und nun?“ Da stand Isabelle mit ihrer tropfenden Nase und den geröteten, fiebrigen Augen, sie wollte eigentlich nur kurz bei ihrem Hausarzt reinspringen, eine Krankmeldung abholen und danach wieder ins Bett. Und nun das – Praxis zu!
Das Bild von einer Teetasse konnte sie auch nicht wirklich trösten, denn die nächste Allgemeinmedizin-Praxis lag 25 Kilometer entfernt. Warum war sie auch mit Widukind in dieses gottverdammte Nest in die Provinz gezogen. Hier ging einfach nichts mehr. Nach und nach hatten die Bäckereien, die Metzgereien und auch die kleinen Supermärkte geschlossen, zurückgeblieben waren lediglich vereinzelt Bio-Bauernhöfe, bei denen sie wenigstens das Nötigste zum Leben kaufen konnte, aber auch nur, weil sie die Bauern fast alle persönlich kannte. Nach zwanzig Jahren gemeinsamer Abgeschiedenheit blieb einem ja nichts Anderes übrig als sich zusammenzuraufen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Widukind wollte damals weg aus der lärmenden Großstadt. Er hatte die Nase voll von den morgendlichen Staus, dem Gedränge der vielen Menschen und der Reizüberflutung, die ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte. In der Klinik mitten im Grünen, die er aufsuchen musste, um sich von seiner Erschöpfung zu erholen, bemerkte er zum ersten Mal nach langer Zeit wieder, dass morgens Vögel zwitschern und die Luft auch nach Frühling riechen kann. Das erinnerte ihn an seine Kindheit, die er größtenteils bei seinen Großeltern in der freien Natur verbracht hatte. Dort hatte er das Pfeifen auf Grashalmen gelernt, seitdem konnte er den Ruf der scheuen Rohrdommel imitieren und nachts ohne Angst durch Mischwälder spazieren.
Isabelle hingegen war in den Metropolen dieser Welt aufgewachsen. Sie liebte das anregende Summen der Großstadt und die Vielfalt an Möglichkeiten, die sich ihr boten. Es war, als säße sie inmitten eines bunten Blumenstraußes, von dem sie sich jederzeit eine Blüte pflücken durfte – ohne Sorge, dass dieser Strauß jemals verwelken würde.
„Praxis zu – und nun?“ – schrie sie in ihr Handy, als ginge es um Leben und Tod. Widukind zuckte am anderen Ende des Telefons zusammen und wusste sofort, was das bedeutete!
Liebe Leser*innen,
in meinen neuen Blog-Beiträgen suche ich nach ersten Zeilen im Alltagsleben, die ich als Anlass für das Erzählen kurzer Geschichten nehmen möchte. Überall in unserem Leben treffen wir auf Worte, Satzfragmente oder auch ganze Sätze. Hinter allen könnte sich eine Geschichte verbergen und ich würde mich freuen, wenn der/die eine oder andere in einem Kommentar seine eigene Geschichte zu meinen Impulsen hinterlassen würde.
Viel Spaß beim Experimentieren!
7 Kommentare
Liebe Hedda,
eine schöne neue Blog-Idee hast Du da. Und startest auch gleich sehr unterhaltsam. Allein der Name Widukind ist ja schon eine Geschichte wert. 🙂
Liebe Grüße
mo…
… hat ein bisschen gedauert bis ich wieder zum Kommentieren komme. Ich finde es schön, dass es auch auf Deinem Blog weiter geht. „Und nun“ ist so ein Satzanfang, den man oft denkt oder sagt, wenn man noch nicht so ganz sicher ist, wie es denn nun weiter gehen soll. Dann sind diese Worte so etwas wie eine getarnte Denkpause . Zwei kleine Worte, die aber auch ein St0ßseufzer sein können. wenn sie einem Anstoß geben, nun endlich mit etwas anzufangen, was man schon lange vor sich her schiebt.
Liebe Grüße
Anne
Liebe Küchenmarie,
du hast ja nun schon zwei Blogs, die du be-schreibst, damit hast du mich angeregt, auch wieder mit dem Bloggen weiterzumachen.
Ich finde es gar nicht so einfach, Worte im Alltag zu finden, die ich fotografieren kann, normalerweise kommen ja meine ersten Zeilen aus der Luft angeflogen – Satzfragmente aus einem Stimmengewirr oder an der Supermarktkasse. Sätze angeln gehen, so nenne ich das.
Ich würde mich wirklich freuen, wenn einer der Leser*innen tatsächlich eine eigene kleine Geschichte aus meinen Wortanfängen schriebe. Ich bin gespannt und möchte dich gerne an dieser Stelle ermuntern.
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
schön, dass Du wieder blogaktiv bist. Ich miußte mich hier erst mit Philipps Hilfe wieder neu anmelden, weil ich durch die lange Pause, das Passwort vergessen hatte. UND NUN muss ich erst mal ihn zu einer Pizza einladen, später dann ein richtiger Kommentar.
liebe Grüße
Anne
Liebe Hedda,
„Praxis zu“ und schon sind Isabelle und Widukind mitten im Beziehungszoff, dass man kaum noch die Vögel zwitschern hört. Eine sehr lebendige Szene.
Deine Schreibanregung greife ich gerne auf. Habe gestern im Zug ein bisschen in „Viel Spaß mit Haas! (Astrid Poir-Bernard) geblättert und bin auf das Sprachspiel mit den Anfangsbuchstaben gestoßen. Habe mich mal an einer mini A-Z-Geschichte in 26 Wörtern versucht:
Adele braucht Chemikalien, denn eine fürchterliche Grippe hustet ihren jammernden Körper lahm. Möchte nicht ohne praxisfernen Quaksalber resignieren. Sollte tatsächlich übermächtiger Virus weiter Xanthippisch YOLO-Motto zernagen?
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Ulrike,
übrigens nachträglich noch herzlichen Glückwunsch zu deinem Roman!!! Ich finde es grandios, dass du es geschafft es…
Ich bastel noch an meiner Buchstabengeschichte von A bis Z, finde es aber eine sehr inspirierende Idee.
Liebe Grüße nach Berlin
Hedda
Liebe Ulrike,
tolle Idee, coole Geschichte!
lg. mo…