Staircase to the moon
„Meeresbrise“ nannte er sie, „meine kleine Meeresbrise“, „Stürmchen“, „Sausewind“ und wenn es ernst wurde „Nebelbank“. Sie liebte die Vielfalt seiner Kosenamen, die allesamt aus dem Bereich der Wetterkunde stammten, denn auf seine Weise war er ein Meteorologe, auch wenn er das Fachgebiet niemals offiziell studieren konnte. Aber als Ranger war man ohne Wetterkenntnisse verloren, das hatte er schnell begriffen.
Meeresbrise war neben Schäfchenwolke ihr Lieblingskosename. Sie liebte die Art, wie er das s in Brise ganz vorsichtig mit der Zunge vorne an den Zähnen anstieß, als sei s eine Wolke, die er nicht zum Zerplatzen bringen wollte. Auch das i besaß genau die richtige Länge, es war niemals schrill und langgezogen wie ein lauter Verzweiflungsschrei, es war auch nicht so kurz, als dass man es mit einem e hätte verwechseln konnte, es spannte sich zwischen dem Br und dem s auf wie ein zierliches Seil, auf dem die Seeluft entlang balancierte.
Sie lehnte ihren Kopf gegen den schon etwas morschen blau-weiß gestreiften Strandkorb und atmete tief ein. Um sie herum tobte ein aufkommender Tornado, sie hätte eigentlich längst die Küste verlassen und sich in ihr Haus zurückziehen müssen. Bereits vor zwei Stunden hatten die Männer von der Küstenwacht alle Strandbesucher über ein Megaphon dazu aufgefordert, unverzüglich Schutz in einem Gebäude zu suchen und so lange dort zu bleiben bis Entwarnung gegeben würde. Doch ihren Strandkorb hatten sie seltsamerweise nicht kontrolliert. Hier an der Küste von Broome kannte man keine Strandkörbe, vielleicht lag es daran. Dieser war ein Überbleibsel ihrer Großmutter, die vor vielen Jahren in die Einöde Australiens ausgewandert war, der Strandkorb gehörte also wie das tägliche Strandgut an diesen Ort, wahrscheinlich hatten sie sich deshalb keine Mühe gemacht, ihn extra aufzusuchen.
Als sie die Augen öffnete, lagen die ersten Palmen bereits entwurzelt auf dem aufgewühlten Sandboden. Jill blieb jedoch weiter sitzen im vermeintlichen Schutz dieses alten ostfriesischen Korbes, keiner hätte sie zum Weggehen überreden können. Warum auch?
Auch diesen Sturm würde sie unbeschadet überstehen, dessen war sie sich ganz sicher. Stürme zu überstehen – das hatte sie das Leben gelehrt. Das konnte sie. Immer wieder aufstehen, neue Wurzeln suchen, Fuß fassen bis der nächste Sturm erbarmungslos zuschlug. Sie war immun dagegen.
„Meeresbrise“ – immer wieder hörte sie, wie der Wirbelsturm ihr diese Worte zuraunte, abseits seines Tosens und Wütens. „Meeresbrise, kleine, feine Meeresbrise“ und sie hörte immer wieder das Gedicht, das sie ihm mit Blick auf die Treppe zum Mond beim Sonnenuntergang so gerne vorgelesen hatte…
Port Hedland, sechs Monate später, in der lokalen Presse:
Heute Morgen fanden Touristen die Überreste eines blau-weißen Strandkorbes an einem entlegenen Strandabschnitt zwischen Broome und Port Hedland. Es wird vermutet, dass dieser Strandkorb mit dem Verschwinden der 72jährigen Mrs. J. Fielding aus Broome in Verbindung steht, die Polizei hat erneut die Ermittlungen aufgenommen.
6 Kommentare
Liebe Hedda,
das mit dem wunderwortwerk gefällt mir richtig gut!!! Aber die Geschichte hat mich traurig zurückgelassen. Da hat sich eine alte Frau (mein Gott, die war grad mal sieben Jahr älter als ich) in dem Glauben, sie sei jedem Sturm gewachsen auf den Schutz der Koseworte und eines ihr von der Großmutter hinterlassenen Strandkorbs verlassen und wird aus ihrem Leben weggeweht. Also gut, vielleicht überlebt sie ja auf einer einsamen Insel oder wird irgendwo an Land gespült….. Getröstet haben mich aber dann diese wunderbaren Mondbilder.
Liebe Grüße
Anne
Liebe Küchenmarie,
deine Antwort finde ich richtig interessant, weil ich beim Schreiben die Phantasie hatte, dass sich die ältere Dame dort absichtlich so hingesetzt hat, vielleicht, weil ihr Ehemann gerade verstorben ist oder eins ihrer Enkelkinder oder … oder .. Jedenfalls war mir so, als wolle sie sich vorsetzlich den Fluten überlassen, denn, wer länger dort wohnt, weiß um die Gefahr eines solchen Wirbelsturmes.
Aber wahrscheinlich habe ich nur ein bisschen zu viel Samantha Schweblin “ 7 leere Häuser“ gelesen, sie schreibt wirklich verstörend, aber sehr inspirierend.
alles Liebe und Danke für die Texterweiterung durch deine Antwort.
Hedda
Und der Mond dort ist einfach …. wow!
Liebe Hedda,
jeder Buchstabe
spürbar, auf der Haut,
streichelnd zart
leicht und sanft
gewaltig und brutal
hinfortreißend
auch das …
Deine Miniatur begleitet mich am Ende dieses Tages,
danke und entführt mich dahin, wohin Alltag nicht gelangt,
liebe Grüße
Mia
P.s.: Wie ist das mit den Fortsetzungen konkret gemeint?
Liebe Mia,
mit meinen kurzen Geschichten möchte ich gerne zwei Dinge zeigen: zum einen, dass wir umgeben sind von Schreibimpulsen. An jedem Laden, an jeder Litfasssäule, an jeder Tür kleben die Worte, die wir so verwandeln bzw. weiter spinnen können. Zum anderen verstehe ich diese Geschichten als Impulsgeschichten, die ihr gerne weiterschreiben könnt. Ihr könnt mit einem Gedicht antworten oder den Text weiterschreiben oder… oder… Und für alle, die es nicht schaffen, hier einen Kommentar zu hinterlassen (was zugegebenermaßen schwierig ist) habe ich die Anregung, dass ihr auf eurer Seite weiterschreibt und mir per mail einfach den link dazu schickt.
Also ich bin schon auf das www = wunderwortwerk gespannt!
all the best
hedda
Liebe Hedda,
die gekoste „Meeresbrise“, die von ihrem Liebsten mit soviel Zartheit durch ihr Leben begleitet wurde, wird letztlich doch vom Sturm fortgerissen. Die Geschichte ihres bewegten Lebens ist bitter-süß, wunderschön und inspirierende! Danke dafür!
Herzliche Grüße
Ulrike
PS: Nina Hagen als Rilke-Interpretin mag ich auch sehr.
Liebe Ulrike,
wie lange habe ich das Wort kosen nicht mehr gelesen…
Und die Welt, die monden ist, das fand ich absolut passend zu dieser Geschichte. Ich habe übrigens nie einen größeren, runderen und eindrucksvolleren Mond als in Westaustralien gesehen.
Danke, dass du auch dieser Geschichte gefolgt bist und ich hoffe immer noch auf Fortsetzungen durch den BKS 11.
liebe Grüße
Hedda