Violette
Liebe Leser*innen,
nachdem ich meine Wortfundsachen in der Vergangenheit an den Anfang meiner Miniatur-Geschichten gesetzt habe, ändere ich nun die Schreibrichtung und setze sie an das Ende. Und immer wieder möchte ich euch alle ermuntern, eure eigene Geschichte zu meinen Schreibimpulsen zu verfassen und sie mir gerne zu schicken.
Viel Spaß beim Schreiben und Lesen.
Hedda Lenz
Es wurde still in dem kleinen Zimmertheater, keiner wagte sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Dann brandete der Applaus auf, frenetisch. Eine solche Aufführung hatten sie lange nicht mehr erlebt in dieser Provinzstadt an den Ufern der Iller, in der Stadt hinter der sich die Berge auftürmten, so als hätte ein unbekanntes Geschöpf einen Moment lang zu fest an der brüchigen Erdkruste gezogen und nicht mehr losgelassen.
Violette sah hinreißend aus in ihrem grünen figurbetonten Samtkleid. Es unterstrich ihre weibliche Silhouette und auch der Visagist hatte ganze Arbeit geleistet. Ihre großen meergrünen Augen strahlten, als sie sich wieder und wieder verneigte. Sie liebte die Chansons von Juliette Greco, aber wer wollte die in der heutigen Zeit hören? Ihr letzter Auftritt lag nun schon drei Jahre zurück, ihre Agentin hatte sich vor zwei Jahren von ihr zurückgezogen. „Violette, dein Zenit ist längst überschritten, wann willst du das endlich begreifen?“ Das waren ihre letzten Worte, bevor sie sich umdrehte und das Café deux magots verließ, in dem sich Violette Tag für Tag mit ihren Erinnerungen und manchmal auch mit dem Leben traf.
Und nun das. Ein Fan von ihr hatte sie in die Kleinstadt gelockt, in das Zimmertheater, das exakt 29 verschlissene Klappstühle bereithielt und einst ein Kino beherbergte. Das L von dem Wort Lichtspielhaus baumelte lustlos an einem Kabel an der Fassade herum, die übrigen Buchstaben ließen sich nur noch auf der vergilbten Hauswand erahnen. Der große Saal war vor zehn Jahren nach Maßgabe des Stadtrates in zahlreiche einzelne Räume unterteilt worden, dabei war als Zufallsprodukt ein Zimmertheater entstanden, da Herr Weilstedt aus dem Kulturausschuss ein Stein im Brett bei der Architektin hatte.
Und jetzt war Violette hier. Das Publikum, bestehend aus der Familie ihres treuen Fans und sämtlichen Anverwandten – insgesamt waren 18 Personen gekommen – applaudierte noch immer und Violette sog die Begeisterung in sich auf – wohl wissend, wie der Abend enden würde.
Als sie das Hotelzimmer betrat, Stunden später, saß Yves vor seinem Laptop und spielte Solitaire. Er blickte sie kurz irritiert an und konzentrierte sich dann weiter auf seine Karten.
„Mir reicht es“, schrie sie unvermittelt in den Raum hinein und ihre Stimme überschlug sich so, als wolle sie sofort aus dem Fenster springen, um diesem Elend zu entrinnen. „Mir reicht es jetzt endgültig! Hast du vollkommen vergessen, wer ich bin? Ich bin eine FRAU, soll ich es buchstabieren?
G — Ö — T — T — I — N
Yves verdrehte die Augen, während er unverwandt auf das Display seines Laptops starrte. Er zuckte nicht einmal zusammen, als die Tür ein letztes Mal krachend in das Schloss fiel.
4 Kommentare
Liebe Hedda,
Ich habe Violette ein Bravo hinterher gerufen, bevor die Tür ins Schloss gefallen ist. Sie scheint es geschafft zu haben, endlich das „so geht es nicht weiter“ Spiel zu beenden und hinaus in ein anderes Leben zu gehen. Auch wenn ich zugegebenermaßen ein wenig fürchte, dass sie sich vielleicht doch noch verzweifelt aus dem Fenster stürzen wird. Aber Göttinen sollten eigentlich alles überleben.
Herzliche Grüße
Anne
Liebe Anne,
Violette würde sich nie aus dem Fenster stürzen, da darf ich dich beruhigen. Sie ist eine Göttin und somit unsterblich!
Vielen Dank, dass du ihr gefolgt bist und vor allem ihre Sehnsucht nachspüren konntest. Wieviel Frauen fühlen wohl wie Violette, habe ich mich beim Schreiben gefragt?
Liebe Grüße
Hedda
Liebe Hedda,
eine göttliche Geschichte! Die Melancholie der Violette spiegelt sich wunderbar in der Fassadeninschrift „Lichtspielhaus“ wider, deren Buchstaben nur noch an einem Kabel hängen und verblassen. Mit dem Applaus und der Wärme im Zimmertheater entzündet sich das Feuer der ascheglimmenden Diva. Ihr Gefühlsausbruch braust mitreißend auf. Der Spruch ist genial. Jede Frau ist eine GÖTTIN.
Danke für diesen funkensprühenden Text.
Herzliche Grüße
Ulrike
Liebe Ulrike,
eine ascheglimmende Diva- diese Beschreibung von dir trifft es. Ich habe jetzt noch den link zu Greco-Chansons eingebaut, wenn du diese Musik im Hintergrund hörst, liest du den Text nochmal ganz anders.
Vielen Dank, dass du mir in dieses Zimmertheater in der Kleinstadt an der Iller gefolgt bist !
Liebe Grüße
Hedda