Warum?
Erstaunlich, wie lange so ein „Es geht so nicht weiter“ weitergeht, dachte Wambugu, schloss seine Augen und strich seinem hellgrauen Kartäuser- Kater sanft über den Rücken. Die Wohnung nahm das Grau der Wolken an, die er von dort aus nicht sehen konnte. Um sie zu betrachten, musste er umständlich 40 Treppenstufen nach unten gehen, die quietschende schwere Metalltür zum Innenhof öffnen, in den Hof treten und dann – erst dann kam der Himmel über Berlin ihm näher.
Wambugu dachte an seine Zeit in Malaysia, an den blauen Himmel, an den Monsunregen und das klare Wasser der Straße von Malakka. An die getrockneten Fische, die wie Perlen an einem dünnen Stock aufgereiht in der Sonne trockneten und an den Gestank der Durian Frucht. Damals war er mit seinen Eltern und den beiden Schwestern auf die Insel Penang gezogen. Der Vater war seinem Cousin Ikechukwu aus Nigeria gefolgt, es klang verheißungsvoll, was dieser aus der üppigen Vegetation der Tropenwelt berichtete. Die Entscheidung seines Vaters war richtig gewesen, dort konnten sie sich bald ein Haus leisten und irgendwann sogar ein Hausmädchen. Dass seine Mutter nur vier Jahre später an den Folgen eines Dengue-Fiebers starb, konnte keiner ahnen. Das nannte man wohl Schicksal.
Irgendwann kam der Anruf von Onkel Oghenekaro. „Wambugu, komm doch nach Berlin. Zu mir. Hier kannst du studieren, deine Talente entfalten, dich neu entdecken, deine Mutter wäre so stolz auf dich!“
Sein Vater hörte auf den Bruder seiner Frau und bezahlte Wambugu ohne mit der Wimper zu zucken den Flug nach Berlin. Seine Familie lebte ohnehin auf der gesamten Welt verstreut, warum nicht auch in Berlin? Seine Frau hatte sich immer mehr Kontakt zwischen ihrem Bruder und ihrem Sohn Wambugu gewünscht, jetzt schien die Zeit gekommen. Und so zog Wambugu nach Berlin, um genauer zu sein unmittelbar an das Kottbusser Tor.
Wambugu öffnete seine Augen wieder und schaute sich in der Wohnung um. Acht Quadratmeter und sein Kartäuserkater, Bruce Willis, eine winzige Küche und ein noch winzigeres Bad. Ohne Fenster versteht sich. Grau meets Grau. „So geht es nicht weiter,“ dachte er sich wieder und wieder, er brauchte die Natur und drehte seine Gedanken im Kreis. Manchmal wurde ihm schwindelig davon, als säße er in einem Kettenkarussell, das vergessen hätte, anzuhalten. Das vergessen hätte, etwas zu ändern.
Vier Jahre später. Dieselben acht Quadratmeter, dieselbe winzige Küche und dasselbe noch winzigere Bad. Ohne Fenster versteht sich. Bruce Willis war vor zwei Jahren überfahren worden von einem bekifften 20jährigen. Vermutlich hatte Wambugus Freund die Haustür nicht ganz geschlossen und das Metalltor stand wegen Wartungsarbeiten an der Heizung offen. Das hatte Bruce Willis schamlos ausgenutzt und sich rausgeschlichen. In die Freiheit. Immerhin war das der Anlass für Wambugu zurück nach Penang zu gehen. Endlich.
Heute wohnt sein Neffe Onyinye dort, sucht nach dem Himmel und überlegt tagtäglich, warum ein „Es geht so nicht weiter“ doch so lange weitergeht.
2 Kommentare
Liebe Hedda,
angesichts des traurigen Endes von Bruce Willis fehlen mir ein wenig die Worte. Dabei sollte es mich trösten, dass dieses traurige Ende wenigstens für Wambugu einen Neuanfang am alten Ort bedeutete. Und nun ist es der Neffe, für den es wohl noch eine Weile so nicht weitergehen kann. Wer muss sterben, damit es für ihn weitergeht??
Melancholische Grüße
Anne
Liebe Küchenmarie,
ja, das ist eben die Frage der Fragen: “ Wie lange ein „es geht nicht so weiter“ weiter geht“ und ob nur der Tod das beenden kann… Ich freue mich, dass du meine Miniatur-Geschichte gelesen und erspürt hast – danke dafür und alles Liebe
Hedda